Wenn die Bäume wieder blühen

In den Flüchtlingscamps in Bosnien harren die Bewohner bei bitterer Kälte aus, um im Frühling ihr Glück zu suchen

  • Fabian Hillebrand, Bihać
  • Lesedauer: 5 Min.
Der Schein trügt: Die Aussichten für Migranten wie Jamal aus Pakistan in der Ruine im neuen Camp Lipa sind alles andere als malerisch.
Der Schein trügt: Die Aussichten für Migranten wie Jamal aus Pakistan in der Ruine im neuen Camp Lipa sind alles andere als malerisch.

Es gibt das Flüchtlingscamp Lipa in Bosnien nun zweimal. Auf beiden Seiten der kurvigen Straße stehen Zelte, umringt von Zäunen aus Stahl. Nur in einem leben Flüchtlinge. Das andere ist vor einem Monat abgebrannt. Das neue Lager besteht aus dunkelgrünen Militärzelten, an jedem Eingang steht eine kleine elektronische Heizung. 900 Menschen leben hier. Sie teilen sich 20 Dixi-Klos, Duschen gibt es keine, ebenso wenig besondere Schutzmaßnahmen gegen das Coronavirus. Diejenigen, die in dem neuen Camp Lipa leben, sind dennoch die Glücklicheren unter den Geflüchteten, die in Bosnien gestrandet sind.

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An der Stelle, wo der Fluss Una die Stadt Bihać teilt, ragt eine fünfstöckige Ruine in den Himmel. Auf fünf Etagen leben hier mehr als 60 Menschen. Überall liegt Müll auf dem schlammigen Boden. Es ist kalt, mit Vorhängen sind einzelne Abteile abgespannt. Die Menschen wachen gerade auf. Es ist nachmittags. Aber in der Nacht können sie kaum schlafen, es ist zu kalt. Nun wärmen überall kleine Feuer, Tee und die Hände der Menschen. Sie haben versucht, sich in den Ruinen ein Stück Würde zu bewahren. Mit dem Blick in eine Glasscherbe richtet sich Sama Zaman Khan die Haare. Zaman heißt Zeit auf Türkisch, das weiß er, da er vier Jahre lang dort gelebt hat. Als Khan aus Pakistan aufgebrochen ist, hatte er noch keinen Bart. 16 Jahre alt war er da.

Er dreht die grünen Steine seiner Halskette in den Fingern. Von einem Schulfreund hat er sie bekommen, damals in Peshawar. Nun trägt er sie nach Europa. Seit sechs Jahren ist er auf der Flucht. Iran, die Türkei, Griechenland, Serbien, Mazedonien, Bulgarien, alles zu Fuß. Nun eben Bosnien-Herzegowina. Hier steckt er seit einem Jahr fest. Er will arbeiten, ein paar Jahre, dann zurück nach Pakistan. Sein Bruder ist inzwischen so alt wie er damals, als er aufgebrochen ist.

Warum er Pakistan verlassen hat? Khan lächelt nur müde über diese Frage. »Kennst du die Taliban? Hast du schon mal was von ISIS (Islamischer Staat, d. Red.) gehört? Vom IS? Mein Vater war Polizist, nun ist er tot. Auf den Straßen von Peschawar erschießen sich die Menschen. Warum soll ich dort bleiben?«

3000 Menschen befinden sich laut der bosnischen Polizei in dem Una-Sana-Kanton an der kroatischen Grenze vor den Toren der Europäischen Union. Wahrscheinlich sind es noch 1000 mehr. Nachts, bei Temperaturen nahe dem Nullpunkt, suchen die Menschen Schutz unter Zelten aus Planen im Wald, in verlassenen Gebäuden und Notunterkünften. Dutzende Menschen mussten bereits mit schweren Erfrierungen behandelt werden.

Khan ist einer der rund 20 000 Menschen, die dieses Jahr nach Bosnien kommen, um ihre Reise nach Norden fortzusetzen. Angesichts zunehmend restriktiverer Sicherheitsmaßnahmen entlang der Balkangrenzen suchen Tausende von Menschen weiterhin einen Weg nach Europa. Die schlechten Lebensbedingungen im Winter und die gewaltsamen Rückführungen aus Kroatien haben Bosnien zu einem der härtesten Orte für Migranten gemacht. Wie in einem Flaschenhals sammeln sich hier Menschen aus Pakistan, Afghanistan, Bangladesch, dem Iran und vielen anderen Staaten in den zwei Grenzstädten Bihać und Velika Kladuša.

Elena war dort, wo die Menschen hinwollen. 23 Jahre hat sie in den Niederlanden gelebt, erzählt die Frau in beinah perfektem Deutsch. In einer Fabrik hat sie dort gearbeitet, Internetkabel hergestellt. Unter falschem Namen, mit falschen Papieren. Während sie vor der Ruine erzählt, grüßen sie die Vorbeilaufenden. »Schwester Elena« wird sie genannt. Einige kennt die kleine blonde Frau aus Flüchtlingslagern in Serbien, andere sind erst vor Kurzem in die Ruinen von Bihać gezogen. »Ich bin stolz auf diese Leute. Sie kennen Schmerz und Verlust. Sie haben nichts und teilen alles«, sagt Elena.

Während sie erzählt, geht Nissar durch die Ruine. Mit einem Zettel und unfassbar kleiner Schrift, sauberes Papier ist ein rares Gut, notiert er, was die Bewohner brauchen. Hilfsorganisationen werden es später liefern.

Elena braucht erst mal nichts. Als sie ihren Mann mit einer Prostituierten erwischte, trennte sie sich von ihm. Ihr Ex schwärzte sie bei der Einwanderungsbehörde an, katapultierte sie aus seinem Leben und aus ihrem. Von der Ukraine versuchte sie es erneut nach Europa. Einmal hatte sie es schon nach Kroatien geschafft, marschierte alleine über einen Grenzfluss. Als sie sich in einen Wald legte, um auszuruhen, griff die kroatische Polizei sie auf. Sie wurde festgenommen, dann nach Bosnien-Herzegowina gebracht. Seit dem 17. Juni ist sie nun hier, dem ersten Sommertag in Bihać.

In die Ukraine will sie nicht zurück. »Ich bin doch Holländerin, nur ohne Pass«, sagt sie. Der Lockdown in den meisten europäischen Ländern läuft noch bis zum 14. Februar. Das weiß sie ganz genau, sie verfolgt die Lage. Sie hofft, er wird nicht verlängert. Denn dann kann sie wieder versuchen, in die EU zu gelangen.

Sama Zaman Khan schaut auf die Ruine, in der er seit sechs Monaten lebt. »Was für ein Scheiß Ort«, sagt er. Und lächelt müde. Hinter den Trümmern ragen schneebedeckte Berge auf. Acht Stunden Fußmarsch dauert es bis zur Grenze. Mehrere Male schon hat Khan den Weg auf sich genommen, immer hat ihn die Polizei aufgegriffen. Einen Antrag auf Asyl konnte er in Kroatien nicht stellen, obwohl das Land nach europäischem Recht dazu verpflichtet wäre, diesen zu prüfen. Stattdessen ist er immer wieder nach Bihać gebracht worden, wo sich einige Pakistaner gerade im kalten Wasser der Una die geschundenen Körper waschen. Ein kahler dünner Baum steht verlassen am Ufer. Gerade ist es zu kalt, um den Weg nach Norden zu wagen. Doch wenn seine Äste wieder blühen, erzählt Khan, will er es erneut über die Berge versuchen. Was soll er auch sonst machen?

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