Die Würde des Menschen
In Erinnerung an den Schriftsteller Theodor Weißenborn
Unglaublich lang ist die Liste seiner Veröffentlichungen: weit über 60 Romane und Erzählungssammlungen. Beginnend mit dem Band »Beinahe das Himmelreich« (1961) bis zu »Querschüsse. Gedanken und Memoiren eines Ketzers« (2019) hat er in manchen Jahren mehrere Bücher geschrieben und sie in meist kleinen Verlagen veröffentlicht. Theodor Weißenborn lebte fürs Schreiben, für die Mitteilung an andere.
Weil er aus linker Perspektive Gleichgesinnte im Osten suchte, ein »neues Deutschland« sozusagen, trafen schon bald nach der deutschen Vereinigung seine Briefe aus der Südeifel bei uns ein. Manchmal steckten in einem Umschlag gleich mehrere Manuskripte, getippt auf seiner Schreibmaschine. Wir hatten damals noch eine wöchentliche Seite »Essay«. Manchmal, wenn es sich um Erzählungen handelte, nannten wir sie »Neue Texte«. Was Theodor Weißenborn schickte, war sowohl essayistisch, polemisch als auch erzählerisch. Oft auch ironisch, sarkastisch, aufrührerisch und bitter. Nie leichthin, weil er ein Anliegen hatte.
1933 als Sohn des akademischen Kunstmalers Karl Weißenborn (1890-1973) und der Kunsterzieherin Antonie Weißenborn (1907-1981) geboren, hat er in den Fußstapfen seiner Eltern zunächst Kunstpädagogik studiert, dann Germanistik, Romanistik und Philosophie. Durch die Schriften Sigmund Freuds und C. G. Jungs inspiriert, nahm er ein Studium der medizinischen Psychologie und Psychiatrie in Köln auf und trat rasch in Opposition zu Lehrmeinungen, die noch aus der NS-Zeit stammten. Was er in Krankenhäusern erlebte, empörte ihn.
Im Sinne alternativer sozial-psychiatrischer Therapieformen wissenschaftliche Vorträge zu halten, in denen er sich gegen die Behandlung mit Elektroschock, Lobotomie und Lobektomie aussprach, genügte ihm nicht. So entwickelte er das Projekt eines literarischen Panoramas psychischer Leiden. In rascher Folge entstand eine Serie psychiatriekritischer Hörspiele, die nach ihrer Ausstrahlung auf mehreren Sendern in das Buch »Eine befleckte Empfängnis« Eingang fanden, das 1969 bei Diogenes in Zürich erschien.
Psychiatriekritik hat er als Kritik an einem System verstanden, in dem Leistung zählt und Angepasstheit. Während ich nach 1990 von den Möglichkeiten einer offenen Gesellschaft träumte, von Meinungsfreiheit, Pluralismus, war er schon ohne alle Illusionen. Die Würde des Menschen war für ihn nicht lediglich ein Ideal, sondern etwas, das mit aller Heftigkeit immer wieder einzufordern war. Zu viel hatte er erlebt.
Ich wusste damals nicht, dass er 1986 im Bundestagswahlkampf im Wahlkreis Bitburg für »Die Friedensliste« kandidiert hatte, ein Personenbündnis, das aus Mitgliedern und Sympathisanten von DKP, SPD, FDP und der Grünen bestand - was für ein Schulterschluss! - und das für die Vernichtung der atomaren Mittelstreckenwaffen eintrat. Jetzt lese ich auf seiner Webseite von seinem satirischen Rundschreiben an die Mitglieder des Bundestages, die für den Nato-Doppelbeschluss gestimmt hatten. Sie mögen doch persönliche Patenschaften für jeweils eine der in Hasselbach und Heilbronn stationierten Cruise Missiles und Pershing-II-Raketen übernehmen, forderte er sie auf. Er bekam keine Antwort. Also hat er am 23. März 1986 vor dem Tor des Raketenstützpunktes Hasselbach öffentlich eine »Zwangstaufe« vollstreckt und den dort stationierten Marschflugkörpern die Namen ihrer politischen Mütter und Väter verliehen. In seinem Buch »Die Paten der Raketen« ist davon die Rede. Klar, dass jemand nach solchen Aktionen mit einer gewissen Unbeliebtheit in den bürgerlichen Medien zu rechnen hat.
Theodor Weißenborn war ein überaus freundlicher Mann, doch seine linke Radikalität musste ich vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen erst noch verstehen lernen, denn ich kannte den Staat noch nicht, in dem er allzu oft angeeckt war. Gerade erst in ihn hineingefallen, wollte ich, so wie meine Kolleginnen und Kollegen auch, irgendwie meinen Platz darin finden, nicht eifernd nur die eigene Meinung gelten lassen, sondern im Gegenteil offen sein gerade auch für andere. Friedfertigkeit indes war auf seine Weise auch Theodor Weißenborn eigen. Bis heute nachzulesen im Internet sind seine Texte, die er für das »ND« geschrieben hat - über seinen Vater, seine Mutter, »Tage des Glücks« in den französischen Alpen.
Nie nur idyllisch, immer auch mit kleinen Seitenhieben gegen das, was ihm zuwider war: gegen Antisemitismus und Verleugnung deutscher Schuld wie auch gegen die Macht eines verknöcherten Katholizismus, dem ich im Osten ja noch nie begegnet war. Wir trafen einander nicht, sprachen lediglich am Telefon. Verstanden einander, weil es um das über allem stehende Gebot der Menschenwürde ging, um den Schutz dieses Planeten vor kriegerischer Gewalt und Zerstörung der Natur.
Immer wieder hat sich Theodor Weißenborn in seinen Texten für Menschen eingesetzt, die »wegen ihrer physischen und psychischen Handicaps aus der Gesellschaft ausgestoßen, an den Rand gedrückt, weggesperrt, vergessen, verdrängt werden, und ebenso engagiert leidenschaftlich geißelt er die Institutionen, die Heime, die Kliniken, die Anstalten, die vorgeben, sich dieses ›Menschenmülls‹ anzunehmen«. Das schrieb der inzwischen auch schon verstorbene Luxemburger Schriftsteller Michel Raus vor 20 Jahren in dieser Zeitung. Theodor Weißenborn ist, wie erst später bekannt wurde, am 9. Januar einem Krebsleiden erlegen. Öffnet man seine Webseite, hört man das Klacken seiner Schreibmaschine.
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