Dammbruch in den USA

6000 Beschäftigte eines Amazon-Logistikzentrums in Alabama stimmen erstmals über eine Gewerkschaftszugehörigkeit ab

  • Johannes Schulten
  • Lesedauer: 4 Min.

Es dürfte die bisher wichtigste Auseinandersetzung zwischen der US-Gewerkschaftsbewegung und Amazon werden. Am 8. Februar sind die über 6000 Beschäftigten eines Logistikzentrums des Onlineriesen im Bundesstaat Alabama aufgerufen zu entscheiden, ob sie in Zukunft gewerkschaftlich vertreten werden wollen. Mit der Abstimmung gab die US-Arbeitsbehörde einem Antrag der Handelsgewerkschaft RWDSU statt, der von 1500 Beschäftigten unterstützt wurde. Sollten sich bei der per Briefwahl durchgeführten Abstimmung mehr als 50 Prozent der Belegschaft für die RWDSU entscheiden, ist Amazon gesetzlich gezwungen, Verhandlungen über einen Tarifvertrag aufzunehmen.

Das wäre tatsächlich historisch, nicht nur für die USA. Anders als in vielen europäischen Ländern musste sich Amazon dort kaum mit organisierten Beschäftigten auseinandersetzen. Auch 25 Jahre nach der Gründung ist das Unternehmen praktisch gewerkschaftsfrei. Mit aktuell über 400 000 Beschäftigten ist Amazon einer der größten Arbeitgeber des Landes. Die wenigen Versuche, Gewerkschaftsvertretungen an Amazon-Standorten zu wählen, scheiterten kläglich. Beim letzten Versuch 2014 stimmte eine kleine Gruppe von Technikern eines Servicezentrums im Bundesstaat Delaware gegen eine Gewerkschaftsgründung. Laut der zuständigen internationalen Vereinigung von Maschinisten und Luft- und Raumfahrtarbeitern, die IAMAW, hatte das Management «intensiven Druck» auf die Belegschaft ausgeübt.
Allein aufgrund der Größe des Logistikzentrums in Bessemer hat die aktuelle Auseinandersetzung eine weit größere Bedeutung. Die «Washington Post» prophezeit bereits die «größten Arbeitskämpfe in den Vereinigten Staaten seit Jahren».

Für viele Beobachter kam die Nachricht der Wahl überraschend, viele Hintergründe sind noch unklar. Die RWDSU gibt aktuell keine Kommentare, heißt es auf eine Anfrage von «nd.DerTag. Die große Unbekannte: Handelt es sich um einen Einzelfall oder ist sie der Auftakt zu einer Organizing-Bewegung?

Sicher ist, dass die Beziehungen zwischen den Gewerkschaften und Amazon in den vergangenen drei Jahren in Bewegung geraten sind. Eine entscheidende Zäsur war die erfolgreiche Kampagne gegen den Bau einer weiteren Amazon-Zentrale in New York City in den Jahren 2018 und 2019. Als eine der wenigen Gewerkschaften unterstützte die RWDSU den Kampf mit einer parallelen Organizing-Kampagne. In der Folge gab es eine Reihe von lokalen Protestaktionen, Demonstrationen und erstmals sogar kleineren Streiks – mal mit gewerkschaftlicher Unterstützung, mal basisorganisiert.

Für internationales Aufsehen haben auch 2000 vornehmlich hoch qualifizierte Amazon-Beschäftigte gesorgt, die sich im September 2019 am globalen Klimastreik beteiligt haben. Sicher ist allerdings auch, dass es sich bei den Aktionen gemessen an der Zahl von über 800 Logistikstandorten, die Amazon in den USA unterhält, um Einzelfälle handelt. Trotzdem hatte Amazon im Herbst 2018 den internen Mindestlohn auf 15 US-Dollar erhöht.

Die Covid-Pandemie könnte sich allerdings als Brandbeschleuniger für den gewerkschaftlichen Widerstand erweisen. Amazon verzeichnet seit Beginn der Pandemie einen Gewinnrekord nach dem anderen und hat Zehntausende zusätzliche Beschäftigte eingestellt. Das Wachstum führte aber auch zu massiven Beschwerden über unsichere Arbeitsbedingungen, zu schnelle Arbeitstakte, fehlende Arbeitssicherheit und unzureichende Corona-Schutzmaßnahmen. Im Oktober hatte Amazon bekanntgegeben, dass fast 20 000 Beschäftigte in den USA positiv auf Corona getestet worden seien. Neue Zahlen wurden seither nicht veröffentlicht. Auf Proteste an verschiedenen Standorten reagierte das Unternehmen hart. In New York wurde ein gewerkschaftlich aktiver Beschäftigter gefeuert, nachdem er die Bedingungen öffentlich kritisierte.

Nach Meinung von Jake Wilson, Soziologieprofessor an der California State University, nimmt der Onlinehändler die Proteste sehr ernst. »Amazon wird tun, was immer notwendig ist, um die Gewerkschaft draußen zu halten«, sagte er gegenüber »nd.DerTag«. »Das Management hat Angst.«

Tatsächlich hat das Störfeuer auch in Alabama bereits begonnen. Zwar wurde ein Antrag, die Abstimmung vor Ort stattfinden zu lassen, vom National Labour Relations Board unter Hinweis auf die hohen regionalen Covid-Zahlen abgelehnt. Unter doitwithoutdues.com (etwa »Mach es ohne Beiträge«) hat das Unternehmen bereits eine Anti-Gewerkschaftsseite online gestellt. Es gebe keinen Grund, Mitgliedsbeiträge an die Gewerkschaft zu zahlen, da Amazon ja bereits »hohe Löhne«, eine »Krankenversicherung« und »zahnärztliche Leistungen« biete, heißt es da etwa. Zudem setzt das Unternehmen nach Medienberichten wieder auf die Dienste der Anwaltskanzlei Morgan Lewis. Die war Amazon bereits beim 2014 erfolgreich abgewehrten Organisierungsversuch im Servicezentrum in Delaware behilflich. Der US-Gewerkschaftsverband AFL-CIO hatte Morgan Lewis bereits in den 1980er Jahren als »Top-Union-Buster« charakterisiert.

Wie die RWDSU für die anstehende Auseinandersetzung gewappnet ist, ist schwer zu sagen. Für den Soziologen Wilson steht fest: »Ein Gewerkschaftssieg gegen Amazon würde nicht nur die eigene Belegschaft beleben, sondern auch eine geschwächte Arbeiterbewegung verjüngen.«

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