Macron packt heißes Eisen an

Frankreich erinnert sich der Kolonialvergangenheit, um die Beziehungen mit Algerien zu verbessern

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 5 Min.

Der Historiker Benjamin Stora ist Frankreichs Experte Nummer eins zum Thema Algerienkrieg und seine Folgen. Rechte wie linke Präsidenten, von Jacques Chirac über Nicolas Sarkozy bis François Hollande, haben ihn mit Untersuchungen zu diesem brisanten Thema beauftragt - doch ohne seine Vorschläge umzusetzen. Seinen jüngsten Bericht hat Stora in der vergangenen Woche Emmanuel Macron übergeben. Der Präsident hatte ihn vor einem halben Jahr in Auftrag gegeben, aber das Thema beschäftigt Macron schon länger. Als er im Präsidentschaftswahlkampf 2017 bei einem Besuch in Algier den Algerienkrieg als »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« bezeichnete, löste das in Frankreich eine so starke Welle der Entrüstung aus, dass er zurückrudern musste. Er hatte unterschätzt, was für ein Minenfeld das Thema auch heute noch ist. Vor allem bewegt es die Nachfahren der »Pieds noirs« (Schwarzfüße), die im 19. Jahrhundert als mittellose Siedler in die Kolonie geschickt wurden, dort durch die Ausbeutung der Algerier zu Wohlstand kamen, dann durch die Unabhängigkeit alles verloren und als wieder mittellose Flüchtlinge in Frankreich alles andere als willkommen waren.

Nathalie, eine Journalistenkollegin, mit der man über alles diskutieren kann, nur nicht über den Algerienkrieg und die »Vertreibung« ihrer Großeltern, erzählt: »Als Charles de Gaulle 1970 gestorben ist, wurde das in der Familie mit Champagner gefeiert.« De Gaulle, 1958 zum Präsidenten berufen, hatte Algerien 1962 in die Unabhängigkeit entlassen. Das haben ihm die »Pieds noirs« nicht verziehen, aber auch viele konservativ-nationalistische Landsleute nicht.

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Das betrifft aber auch die Familien der Harkis, der algerischen »Kriegsfreiwilligen«, die an der Seite der Kolonialarmee gegen ihre eigenen Landsleute gekämpft haben. Nur ein Teil von ihnen konnte sich zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit mit ihren Familien nach Frankreich retten. Hier kamen sie in Lager, in denen sie viele Jahre unter primitivsten Bedingungen leben mussten. »Für die Bevölkerung waren unsere Leute Gesindel, und so wurden sie auch behandelt«, erzählt Amin, der schon in Frankreich geborene Enkel eines Harki, aus der Familiengeschichte. »Es hat verdammt lange gedauert, bis unsere Leute Arbeit bekamen und sich nach und nach ein normales Leben aufbauen konnten.« Seine Großeltern und Eltern konnten erst 1980 das Lager verlassen, als ihnen endlich eine Sozialwohnung zugewiesen wurde. »Meine Arbeitskollegen wissen so gut wie nichts über den Algerienkrieg«, meint er. »In der Schule wurde das nur kurz und oberflächlich behandelt. Man hat den Eindruck, dass die meisten Franzosen nicht daran erinnert werden wollen.«

Die Verträge von Evian beendeten offiziell den Algerienkrieg und begnadigten pauschal die Kriegsverbrecher auf beiden Seiten. Das habe nicht zur Aufarbeitung der Vergangenheit beigetragen, meint Benjamin Stora. François Mitterrand, der zur Zeit des Algerienkrieges Justizminister war und die Begnadigung zum Tode verurteilter Kämpfer der algerischen Nationalen Befreiungsfront (FLN) ablehnte, hat später als Präsident die Generäle begnadigt, die 1961 gegen Präsident Charles de Gaulles putschten, um die Unabhängigkeit Algeriens zu verhindern, erinnert der Historiker. Er ist überzeugt, dass die »Befriedung« der bilateralen Beziehungen und eine französisch-algerische Aussöhnung nur über die offene Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auf beiden Seiten möglich wird.

Für Frankreich schlägt er eine ganze Reihe von demonstrativen Gesten des Gedenkens vor. Dazu gehört eine Kommission von Historikern, die in den Archiven die Akten auswerten sollen, die bisher als Staatsgeheimnisse weggeschlossen waren und erst jetzt zögerlich freigeben werden. Diese Kommission hat Macron inzwischen schon eingesetzt und auch erklärt, dass er in diesem Jahr an den Gedenkfeierlichkeiten teilnimmt: am 27. September, dem Tag der Harkis, und am 17. Oktober, wenn der algerischen Todesopfer einer 1961 in Paris von der Polizei brutal zusammengeprügelten Demonstration für die Unabhängigkeit gedacht wird. An dieser Zeremonie hat noch nie ein Minister oder gar der Präsident teilgenommen.

Dass Macron dagegen nicht auf die Forderung nationalistischer Kräfte in Algerien nach einer offiziellen Entschuldigung eingehen will, kann Benjamin Stora verstehen. Weil alle konservativen Kräfte Frankreichs das als Erniedrigung empfinden und dem Präsidenten heimzahlen würden, handele es sich um »eine politische Falle der Rechtsextremen«, ist der Historiker überzeugt. Realistische Pragmatiker auf beiden Seiten des Mittelmeers setzen eher auf eine »Anerkennung der Fakten«. Dazu gehört die Rückführung von Archiven nach Algerien. Denkbar sind auch Entschädigungen für Opfer der Atombombenversuche, die Frankreich selbst nach der Unabhängigkeit noch bis 1966 in der Sahara durchführte.

»Macron muss überaus vorsichtig und ausgewogen agieren«, sagt Dominique Reynié, Professor an der Politikhochschule Sciences Po. »Die Algerien-Thematik reicht bis weit in die Innenpolitik und den Kampf des Präsidenten gegen den Separatismus und für den Zusammenhalt der Republik.«

Das kann der 23-jährige Amadou aus tagtäglicher Erfahrung als »Mediator« in einer sozialen Problemsiedlung der Pariser Arbeitervorstadt Aulnay-sous-Bois bestätigen. »Während ihre Großeltern und Eltern, die nach der Unabhängigkeit hierher kamen, nur Arbeit und später die Anerkennung als Franzosen wollten, fühlt sich die zweite und dritte Generation algerischer Immigranten mehr denn je ausgegrenzt und benachteiligt«, meint er. Von Frankreich hätten sie zwar den Pass in der Tasche, aber nicht die republikanischen Werte im Herzen. »Diese Jugendlichen suchen nach einer Identität, und diese hoffen viele in der Religion zu finden. Doch oft geraten sie so in die Fänge radikaler Islamisten.«

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