Nepal schlittert immer tiefer in die Krise
Wachsende Polizeigewalt, Preisanstieg und fehlende Perspektiven prägen das Leben im Himalayastaat
Das Parlament ist formell aufgelöst; die Regierung nicht mehr demokratisch legitimiert; und immer mehr auch parteipolitisch nicht gebundene Bürger*innen und Persönlichkeiten der Zivilgesellschaft gehen auf die Straße. Nepal, bis vor kurzem noch ein relativer Hort der Stabilität im latent unruhigen Südasien, rutscht immer tiefer in die Krise. Vorläufiger dramatischer Höhepunkt: Zu Wochenbeginn setzte die Polizei Wasserwerfer und Schlagstöcke gegen mehrere Hundert Demonstrierende ein, die sich vor dem Amtssitz des umstrittenen Regierungschefs versammelt hatten.
»Zivilen Protest mit Gewalt zu unterdrücken, ist gegen demokratische Werte und menschenrechtliche Prinzipien«, twitterte Mohna Ansari, die früher Sprecherin der nationalen Menschenrechtskommission war. Sie hatte zuvor selbst auf der Kundgebung gesprochen und zeigte sich schockiert vom rücksichtslosen Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen eine Menschenmenge, zu der Schriftsteller*innen, Künstler*innen und bekannte Aktivist*innen gehörten. Gerade die Zusammensetzung der Demonstrierenden unterschied diese Protestaktionen von früheren: Zumeist waren parteipolitisch organisierte Oppositionskräfte tonangebend oder eine intern konkurrierende Fraktion der regierenden Nepalesischen Kommunistischen Partei (NCP) von Premierminister Khadga Prasad Sharma Oli. Auch ihre Führer verurteilten in scharfen Worten die Polizeigewalt, doch war ihr »Fußvolk« diesmal eher als Minderheit dabei. Vom Premier selbst kam bisher offiziell kein Wort des Bedauerns.
Von Tag zu Tag verliert Oli, bislang einer der anerkanntesten Linkspolitiker des Landes, weiter an Ansehen. Immer größer wurden im letzten Quartal 2020 die Differenzen zwischen ihm und seinem Co-Parteichef Pushpa Kamal Dahal alias Prachanda, von 1996 bis 2006 Anführer des maoistischen Guerillakampfes gegen die damals noch herrschende konservative Monarchie. Schrittweise hatten sich in NCP wie Regierung quasi zwei parallele Machtzentren mit schwindender Kommunikation etabliert, Mitte Dezember dann der scheinbare Befreiungsschlag: Auf Olis Veranlassung verkündete die Präsidentin die Auflösung des Parlaments und vorgezogene Neuwahlen Ende April und Anfang Mai. Seither kommt der Himalayastaat politisch nicht mehr zur Ruhe, ist neben der Corona-Pandemie, generell hohen Armutsraten und Wirtschaftsproblemen nun auch von einer Erschütterung seiner demokratischen Grundfesten geplagt.
Während politische Gegner und Konkurrenten sowie zunehmend auch die Zivilgesellschaft auf der Straße demonstrieren, haben sich Gerichte und andere Kontrollinstanzen in dem Streit noch nicht eindeutig positioniert. Auch die nationale Wahlkommission sah sich bei ihrer jüngsten Sitzung außerstande, einer der beiden NCP-Fraktionen formell Parteinamen und Symbol zuzugestehen. Nicht nur Oli und seine Getreuen hätten gegen das eigene Statut sowie das Parteiengesetz verstoßen, sondern ebenso das Lager um Co-Parteichef Dahal und Madhav Kumar Nepal, der wie die anderen Hauptakteure selbst schon mal Regierungschef war. Die den beiden letztgenannten ergebene Fraktion hat derweil Oli als Co-Parteichef abgesetzt und ein Ausschlussverfahren eröffnet: Die Spaltung nimmt so auch organisatorisch immer konkretere Form an.
Während einige Einwohner, vor allem in der Hauptstadt Kathmandu, bei Demos ihren Protest kundtun, haben viele andere nur mit dem täglichen Überlebenskampf zu tun, der zusätzlich zu allen Auswirkungen der Pandemie immer schwieriger wird. Die Verbraucherschutzorganisation Consumer Rights Investigation Forum hat gerade ermittelt, dass die Preise für Reis und andere Produkte des täglichen Lebens seit Beginn der Regierungskrise um zwölf bis 15 Prozent gestiegen sind.
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