Die vereisten Kommunikationskanäle

Mit Sanktionen und Pro-Nawalny-Erklärungen kommen westliche Staaten nicht zu Rüstungskontrollverträgen mit Russland. Dabei sind diese dringend notwendig

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.
»Europa hat keine Zukunft ohne Russland.« Diesen Satz hat der einstige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) vor rund 20 Jahren gesagt. Der Gedanke scheint – ungeachtet der düsteren gemeinsamen Geschichte und der Erfahrungen jahrzehntelanger Blockkonfrontation – inzwischen allzu tief vergraben im Handbuch deutsch-russischer Diplomatie. Sanktionen gelten als gebotener politischer Strafzoll, den westliche Staaten gegen Willkürhandlungen des Kremls erheben. Anstatt das Mögliche zu tun, um inzwischen verblasste Rüstungskontrollerfolge aufzufrischen, baut die Nato grenznahen Stellungen im Osten aus.

Die Allianz, so das westliche Erklärungsmuster, wolle Russland so vor unbedachten Offensivhandlungen à la Krim abschrecken. Doch in Moskau bewertet man die Bündnissolidarität gegenüber den östlichen Nato-Mitgliedern als aggressives Einengungskonzept. Es dient als Begründung für Gegenmaßnahmen. Verteidigungsminister Sergej Schoigu hat 2021 zum Rekordjahr für Militärübungen erklärt. 120 Großmanöver sind geplant. Die verstärken den Argwohn der Nato. Im Ergebnis rüsten sich beide Seiten weiter hoch. Was letztlich die Sicherheit beider Seiten schwächt.

Doch wie gefährlich sind Wladimir Putins Streitkräfte tatsächlich? Die Frage ist nicht so einfach zu beantworten. Wie bei der Nato lassen sich auch Russlands Fähigkeiten zur hybriden Kriegsführung – und damit zu Operationen unterhalb der Schwelle eines offenen Krieges – nur schwer ergründen und in herkömmliche Analysen einpassen. Tatsächlich hat die sichtbare Potenz der russischen Streitkräfte in den vergangenen Jahren zugenommen. Moskau konzentriert sich auf wenige hochmoderne, extrem präzise und weitreichende Waffensysteme, die sowohl konventionell wie nuklear bestückt sein können.

Iskander-M-Raketen gehören ebenso dazu wie die Kalibr-Marschflugkörper der Marine. Die Luftwaffe hängt demnächst von Putin hochgelobte Hyperschall-Flugkörper unter ihre Tragflächen. Die können modernste Luftverteidigungssysteme überwinden. Gleichwertiges hat der Westen (noch) nicht aufzubieten. Technische Fortschritte gibt es offenbar beim nuklearen Antrieb von Raketen- und Torpedowaffen, die damit jederzeit weltweit eingesetzt werden können. Im Weltraum kreisen zahlreiche Überwachungs-, Navigations- und Zielsysteme. Zugleich baut Russland seine Luftverteidigungssysteme aus.

Auf der Habenseite des russischen Militärs steht die Erfahrung, die Kommandeure und Waffenkonstrukteure vor allem auf den syrischen Schlachtfeldern gewonnen haben. Doch der jüngste Krieg um Bergkarabach offenbarte zahlreiche Schwächen von Moskaus bodengebundenen Streitkräften. Deren Drohnen sind ebenso unvollkommen wie deren Drohnenabwehr. Westliche Analysten bezweifeln, dass Putins Heerestruppen zu breit angelegten konventionellen Offensivoperationen fähig sind. Wohl aber registrieren dieselben Fachleute, dass Russlands Streitkräfte insgesamt bis weit in einen möglichen westlichen Aufmarschsektor hineinwirken und so beispielsweise eine signifikante Verstärkung der Nato-Truppen in den baltischen Staaten blockieren können.

Ob dies jemand ernsthaft in Betracht zieht? Die Gefahr einer nuklearen Eskalation wäre gewaltig. Schon weil keine Seite einzuschätzen vermag, ob eine anfliegende Rakete konventionell oder atomar bestückt ist, geht man von der schlimmsten Variante aus. Und auch vom Nukleareinsatz deutscher Kampfjets.

Russlands Armee besteht aus rund 900 000 Soldaten. Das ist gewaltig. Doch beim Ausmalen einer möglichen russischen Bedrohung sollte die Nato ehrlicherweise darauf hinweisen, dass die finanziellen Möglichkeiten Moskaus seit Jahren begrenzt sind. 2019 betrug der russische Verteidigungshaushalt umgerechnet 64,1 Milliarden Dollar. Das sind fast vier Prozent des russischen Bruttoinlandsproduktes. Die Militärausgaben der 29 Nato-Mitglieder lagen zur gleichen Zeit bei 1035 Milliarden US-Dollar. 2020 packte Russland eine Milliarde Dollar auf den 2019er Etat drauf. Doch das ist noch immer nur gut ein Zehntel des US-Rüstungshaushalts.

Die Coronakrise tut »abrüstungspolitisch« das Ihre. Das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI geht angesichts der Pandemie von einem sinkenden russischen Militäretat aus. Unterm Strich bleibt: Obwohl in Europa seit dem Ende des ersten Kalten Krieges eine andere geostrategische Situation herrscht, besteht sowohl im strategischen Verhältnis zwischen Russland und den USA wie auch in Bezug auf die europäischen Nato- und EU-Kräfte weiter ein Vernichtungspatt. Das sich auch mit dem neuen, inzwischen längst begonnenen Rüstungswettlauf kaum vermeiden lässt.

Statt nach neuen Sanktionen zu suchen, könnte die Nato, womöglich angeregt von Deutschland, rüstungspolitische Vernunft zeigen. Dass sich technologische Entwicklungen – wie einst bei der Vernichtung der SS-20-Raketen – einfangen lassen, ist unwahrscheinlich. Denkbar wäre ein Abkommen zur räumlich weit getrennten Lagerung von Trägermitteln und Atomsprengköpfen. Es setzt maximale Transparenz voraus. Dabei könnte die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa gute Dienste leisten. Auch beim Entschärfen des »Hotspot Baltikum« wäre die OSZE und ihre sogenannte Kontaktzonen-Idee hilfreich.

Zunächst jedoch müsste der Nato-Russland-Rat wieder aktiviert werden. Das kann mit Sanktionen ebenso wenig befördert werden wie die Rekonstruktion der direkten Telefonleitung Brüssel-Moskau. Nach dem Ende der Trump-Administration haben sich die Chancen für Rüstungskontrollverträge zwischen den USA, der Nato und Russland verbessert. Allerdings erfordern sie politische Stabilität auf allen Seiten. So berechtigt demokratische Proteste gegen die Regierung Putin sind, der Westen sollte sich vor zu viel Einmischung hüten. Sonst vereisen mögliche Gesprächskanäle schneller, als man sie aufgetaut hat.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!