- Kultur
- Lore Diehr
Die Hundertjährige, die Hitler den Kampf angesagt hatte
Die Geschichte der Lore Diehr ist ein Zeugnis von Zivilcourage
Die Kontaktaufnahme war schwierig. Coronabedingt. Und überhaupt. Bei meinem ersten Anruf verstand mich Lore Diehr akustisch nicht. Atmosphärische Störungen? Ich hörte sie indes gut, nur sie nicht mich. Die Vorstellung meines Anliegens verhallte. «Wer ist denn da? Hallo?», fragte sie mehrmals am anderen Ende der «Leitung» - so man dies im Mobilfunkzeitalter noch sagen kann. Ich vernahm schließlich nur noch ein enttäuschtes Seufzen: «Keiner da.» Leider vergaß Lore Diehr hernach «aufzulegen» - also die entsprechenden Taste ihres Handys zu drücken, so dass weitere Anrufversuche meinerseits zum Scheitern verurteilt waren, bei der Wahl ihrer Nummer stetig ein Besetzzeichen ertönte. Zum Glück wurde sie am Abend von ihrer Tochter besucht.
Lohre Diehr begeht am heutigen Donnerstag ihren 100. Geburtstag. Eine wahre Jahrhundertzeugin. Und was für ein Jahrhundert das war, in dem sie lebte, bangte, hoffte, kämpfte, sich verliebte, enttäuscht wurde - und doch obsiegte. Sich und ihren Überzeugungen treu blieb, bescheiden, aufrecht, fröhlich und immer geradezu und geradeaus. Sie ist eine waschechte Berlinerin, aufgewachsen in Kreuzberg, in Neukölln zur Schule und in Pankow zum Arbeiterwiderstand gehörend.
«Meine Eltern waren Sozialdemokraten und bei den Naturfreunden», berichtet Lore Diehr. Kurz nach Hitlers Machtantritt am 30. Januar 1933 wird der Vater, von Beruf Tischler wie sein Vater und zudem SPD-Stadtverordneter auf offener Straße verhaftet, mit zwei Genossen, die gleich ihm im für die Sozialdemokratie im städtischen Parlament saßen. «Man nannte sie ›die drei Fritzen‹.» Lores Vater hieß Fritz Barthelmann, seine Kollegen Fritz Schmidt und Fritz Naujoks. Letzterer, Drucker und Freidenker, wird 1944 wegen «Judenbegünstigung und Passvergehen» noch einmal zu vier Monaten Gefängnis verurteilt; nach dem Krieg wird ihn die Alliierte Kommandantur in Neukölln zum kommissarischen Leiter der Erfassungsstelle für Nazi-Vermögen bestellen.
Doch vorerst sind «die drei Fritzen» wie vom Erdboden verschluckt. Verzweifelt suchen ihre Frauen gemeinsam nach ihnen. Schließlich erfahren sie, dass ihre Männer in der Prinz-Albrecht-Straße gefangengehalten werden, dem «Hausgefängnis» der Gestapo, berüchtigt durch die dort angewandten Foltermethoden, denen sich manche Häftlinge durch Selbstmord zu entziehen versuchten. An der grausigen Stätte, an der sich heute die Topographie des Terrors befindet, litten in den folgenden Jahren, bis zur Befreiung vom Faschimus über 15 000 politische Gegner des NS-Regimes, darunter Angehörige der Widerstandsgruppe um Arvid Harnack und Harro Schulze-Boysen, bekannt als «Rote Kapelle», dem ihr verpassten Fahndungsnamen der Gestapo, sowie Mitglieder des «Kreisauer Kreises», Mitverschworene des Hitler-Attentäters Claus Schenk Graf von Stauffenberg.
Lore erinnert sich, dass der Vater kaum über seine Erlebnisse im Gestapo-Gefängnis sprach. Es muss unerträglich, unsagbar gewesen sein. Fritz Barthelmann wird nach intensiven Verhören nach Sonnenburg bei Küstrin an der Oder (heute Kostrzyn, Polen) «überstellt». Das dortige Zuchthaus preußischer Ordnungsmacht ist im April 1933 in ein Konzentrationslager umgewandelt worden, gehörte damit zu den ersten in Nazideutschlands. Hier waren zeitweilig auch Erich Mühsam und Carl von Ossietzky inhaftiert. Im Verlauf des Krieges wurden dorthin 1500 «Nacht-und-Nebel-Häftlinge», Widerstandskämpfer aus Frankreich, Belgien, Holland und Norwegen deportiert, darunter prominente Namen. Und dort geschah auch das größte Massaker an Gefangenen in der Endphase des Zweiten Weltkriegs.
Fritz Barthelmann wird 1935 entlassen. Durch die Haft stigmatisiert, findet er keine Arbeit. Die Mutter Käthe, Schneiderin, spezialisiert auf feinste Perlenstickerei, zu deren Kundschaft auch jüdische Familien gehörten, kann ebenfalls nicht mehr ihrer gewohnten Tätigkeit nachgehen. Sie hat derweil in Pankow einen «Tante-Emma-Laden» aufgemacht, zunächst in der Trelleborger Straße, dann in die nahen Herthastraße, wo die vierköpfige Familie wohnt, auf engsten Raum: Küche und eine «gute Stube». Der Laden wird alsbald zu einem Treff des Widerstands. Hier gehen Genossen, Sympathisanten und sogenannte Stille Helfer ein und aus. Sie kaufen nicht nur Lebensmittel, sondern bringen auch verschiedene Waren des täglichen Bedarfs. «Das ist für hinten», lautet der Code bei Übergabe der Mitbringsel und meint: Das ist für «Illegale», wie heute in der Literatur gemeinhin, jedoch nicht korrekt, verfolgte und untergetauchte Widerstandskämpfer, Juden und Jüdinnen genannt werden. Denn nicht jene waren illegal, rechtswidrig, ungesetzlich war die Diktatur der Braunhemden, waren die Faschisten, Hitler & Konsorten.
Lore erinnert sich noch genau an eine der «Stillen Helferinnen». Sie hieß Gerda Kafka, wohnte im benachbarten Prenzlauer Berg. Von Beruf selbst Verkäuferin, Mutter von zwei Kindern, kam sie oft in den Laden der Barthelmanns, um etwas für die von ihr betreuten «Illegalen» abzuholen. Was Lore damals nicht wusste, Gerda Kafka gehörte zum Widerstand um Anton Saefkow, Franz Jacob und Bernhard Bästlein, einem oder gar dem größten antifaschistischem Netzwerk in Deutschland gegen das NS-Regime. «Kurz vor der Befreiung verschwand sie plötzlich. Wir nehmen an, dass sie in der Neumannstraße in Pankow - da war ein SS-Nest - erschossen worden ist. Ihre Kinder habe ich dann bis 1948 aufgezogen, dann hat deren Vater wieder geheiratet und sie zu sich genommen.»
Lore hasste die Nazis von Kindesbeinen an. Deren Aufmärsche erschienen ihr gespenstisch, gruselig, ließen nur Böses ahnen. «Als der Vater verhaftet wurde, haben sie eine Hausdurchsuchung bei uns gemacht. Das war furchtbar. Die haben das Oberste zum Untersten gekehrt.» Konterbande haben die Schnüffler nicht gefunden. «Meine Eltern hatten vorher schon alles fort geschafft.»
Nicht nur die Verhaftung des Vaters, auch der durch die Nazis erzwungene dreimalige Schulwechsel prägt das Mädchen. Ihre Eltern hatten sie auf eine weltliche Schule geschickt, an der vor allem Kinder von Sozialdemokraten und Kommunisten lernten und die Lehrer aufgeschlossen, linksliberal waren. Sie wurde von den braunen Machthabern geschlossen. Ebenso die zweite weltliche Schule, die Lores Eltern für sie dann ausgewählt hatten. Sie wird in eine christliche eingeschult. Der Religionsunterricht langweilt sie. Lore liest heimlich Bücher unter Bank. Und wird von anderen Kindern beim Lehrer verpetzt. «Es war nicht einfach.» Dennoch schafft sie den Volksschulabschluss und absolviert eine Lehre als Schneiderin, wie ihre Mutter. Lore tritt nicht in den Bund Deutscher Mädel (BDM) ein, in dem die Nazis zur ideologischen Infiltration alle 14- bis 18-Jährige zwingen. Die Verweigerung gelingt mit dem Verweis auf die Verhaftung ihres Vater. Die Tochter eines «Volksfeindes» wollen die Nazisinnen nicht in ihren Kohorten.
Lichtstrahl in dieser finsteren Zeit sind für Lore die Ausflüge mit ihren Freunden und Freundinnen in die Natur. Dort fühlt man sich frei und unbeschwert. Vor der Machtübernahme der Nazis gehörte sie der SPD nahen «Freien Turnerschaft» an, die sich nach 1933 in «Blau-Weiß» umbenennt. Auf ihren Wanderungen und Fahrten treffen die Jungen und Mädchen auf gleichaltrige Sportkameraden von «Astoria», die früher dem kommunistischem Sportclub «Fichte» angehört hatten. «Wir haben diskutiert, gemeinsam das ›Manifest» von Marx und Engels gelesen. Wir haben viel gesungen, auch Lieder von Ernst Busch, aus dem Spanienkrieg. Ich habe Gitarre gespielt.« Die Jugendlichen verfassen auch Flugblätter, die sie nächtens in die Briefschlitze der Mietskasernen stecken.
1942 wird Vater Fritz eingezogen. Er soll in Hohenlychen bei Berlin französische Gefangene bewachen. »Da haben die Nazis den Bock zum Gärtner gemacht«, freut sich Lore Diehr noch heute. »Meine Mutter fuhr sonntags raus nach Hohenlychen, um für die Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen heimlich Lebensmittel zu übergeben.« Als die Rote Armee näher rückt, bittet Fritz Barthelmann seine Frau, ihm Zivilkleidung zu bringen. »Dann hat er zu den Gefangenen gesagt: ›Ihr könnt jetzt gehen, ich gehe jetzt auch.‹ Und so ist er losgetrabt, nach Berlin.«
Lore ist 1941/42 zum »Altmärkischen Kettenwerk« (Alkett) dienstverpflichtet worden, musste Messer schleifen für Gewehrmündungen. »Ich habe mich sehr ungeschickt angestellt«, erinnert sich die Veteranin. Und meint damit, dass sie geschickt Sabotage verübte. Sie lässt sich immer häufiger krankschreiben, bis sie gekündigt wird. Darüber ist sie heilfroh. Jetzt kann sie der Mutter im Laden aushelfen. Und ihren Beitrag für Menschen in Not leisten. Sie hat inzwischen in einen Sportkameraden verliebt: Paul Elsholz, genannt »Polli«, der zu den »Fichte«-Sportlern gehört hatte und in Frankreich stationiert war. Für die Hochzeit bekommt er Urlaub. Am 5. Juni 1944 wird geheiratet. Am Tag darauf startet die Operation »Overlord«, die Landung der Westalliierten in der Normandie. »Polly« entgeht glücklich den mörderischen Gefechten, die den Briten und Amerikaner an die 54 000 Tote, auf deutscher Seite 78 000 kosten. Ein befreundeter Arzt spritzt ihm Blut unters Knie, damit er nicht wieder an die Front muss. »Polli« kommt ins Lazarett in Frankfurt (Oder). Dort lässt ein Hauptfeldwebel, Friedrich Oberdoerster, der in der DDR Professor für Epidemiologie an der Humboldt-Universität sein wird, seine Papiere verschwinden. »Polly« erhält gefälschte Dokumente und radelt fortan in Wehrmachtsuniform unbeschwert von Frankfurt (Oder) nach Berlin - beschwert nur von Waffen und Munition im Gepäck. Die jungen Widerstandskämpfer sind einfallsreich und furchtlos. »Nö, Angst hatte ick keene«, sagt Lore Diehr und berichtet, wie sie für die jungen Männer unter ihnen, die einen Einberufungsbefehl erhielten, ein Gestell konstruierten, mit dem man einen Arm brechen konnte. »Zuerst hatten wir das mit Hammer und Handtuch gemacht. Das war schlimmer. Ja, das tat so oder so weh, rettete aber Leben. «
Im Mai 1944 bietet Lores Familie Gerhard Sredzki Zuflucht, der gemeinsam mit seiner Frau Gerda ebenfalls zur Widerstandsorganisation um Saefkow, Jacob, Bästlein gehört hatte und untertauchen musste. Im Umfeld des Stauffenberg-Attentats vom 20. Juni werden über 200 ihrer etwa 500 Mitstreiter verhaftet, mehr als Hundert in den folgenden Wochen und Monaten hingerichtet oder in KZ ermordet. Auch »Polli« wäre fast »aufgeflogen«. »Irgendjemand hat uns verraten.« Im Februar 1945 stehen Feldgendarmen vor der Tür, wollen seine Papiere überprüfen. Lore kehrt im rechten Augenblick heim. Sie flirtet mit den »Kettenhunden«, bietet ihnen Schnaps und etwas zum Knabbern an, lässt sie auf der Couch Platz nehmen: »Da ham se jut jesessen.« Denn was die Jäger nach Deserteuren, deren Namen im Volksmund sich ihrer metallenen Plakette um den Hals verdankt, nicht wissen: Im Sofa sind Waffen versteckt.
In den letzten Kriegstagen, da SS und fanatisierte Hitlerjungen durch die Straßen Berlin streifen, Deserteure und »Defätisten« auf der Stelle erschießen taucht die gesamte Widerstandsgruppe um Lore unter, versteckt sich in einer Laube in Heinersdorf. »Ein Mädel von uns hatte die glorreiche Idee, Schilder aufzustellen mit der Aufschrift: ›Achtung! Seuchengefahr!‹. Uns hat da kenner mehr belästigt.«
Lore packt beim Wiederaufbau mit an. Die Mutter von zwei Kindern, deren zwei Ehen scheiterten, arbeitet als Schreibkraft in der Güterstelle beim Reichsbahnausbesserungswerk (RAW) in Berlin. Die Umtrieben und Morde Rechtsradikaler und Neonazis heute kommentiert sie mit den Worten: »Das haben wir alles schon mal erlebt. Wan hört das endlich mal auf?«
Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!