- Politik
- Kooperationen mit der AfD
Die Angst ist immer noch da
Kooperationen mit der AfD sind in Ostdeutschland weiterhin nicht ausgeschlossen
Es gibt etwa ein halbes Dutzend Fotomotive, die die Spannung, die Wendungen, die Tragik und die Dramatik dessen zeigen, was sich vor einem Jahr zuerst an einem sehr genau bestimmbaren Ort und dann in der ganzen Republik abgespielt hat. Für die Antwort auf die ganz große Frage danach, was dieser Tag - der 5. Februar 2020 - für alle Tage danach vor allem für den Osten Deutschlands bedeutet, steht aber nur eines dieser Fotos. Es zeigt zwei Männer, die sich die Hand geben.
Ehe dieses Foto entsteht, ist bereits klar, dass keine gewöhnliche Ministerpräsidentenwahl im Thüringer Landtag anstehen würde. Zwar behaupten vor allem CDU- und FDP-Abgeordnete bis heute, sie hätten sich nicht mal theoretisch vorstellen können, was dort geschah. Doch als die Abgeordnetenplätze des Plenarsaals an jenem Vormittag vor einem Jahr noch leer sind, sich aber die Zuschauertribüne langsam mit Journalisten und Besuchern füllt, da wird auf den Fluren des Parlaments längst darüber nachgedacht, was wäre, wenn… Was wäre, wenn einer der Männer, die sich später die Hand geben, dem anderen eine Falle gestellt hätte? Was wäre, wenn der andere hinein laufen würde? Was wäre, wenn es vielleicht sogar Absprachen zwischen ihnen gäbe?
Zu diesem Zeitpunkt gibt es keine klaren Mehrheitsverhältnisse im Landtag. Auch wenn die Linke und ihr Spitzenmann Bodo Ramelow die Landtagswahl vom Oktober 2019 klar gewonnen haben, hat das rot-rot-grüne Bündnis, das Ramelow seit 2014 als Ministerpräsident führt, diese Wahl doch klar verloren. Linke, SPD und Grüne haben seither keine Mehrheit mehr.
Trotzdem schließen die drei Parteien einen Koalitionsvertrag für eine Minderheitsregierung, trotzdem geht man in die Ministerpräsidentenwahl. Letzteres sogar zuversichtlich, weil die Spitzen des Bündnisses erwarten, dass ein paar CDU-Abgeordnete bei der geheimen Abstimmung über die Besetzung des Regierungschefs schon für Ramelow stimmen werden. Doch als das Foto vom Handschlag der beiden Männer entsteht, ist offenbar: Das war eine der gravierendsten Fehleinschätzungen in der jüngeren deutschen Parlamentsgeschichte.
Im dritten Wahlgang wird statt Ramelow der FDP-Politiker Thomas L. Kemmerich zum Thüringer Ministerpräsidenten gewählt - sehr wahrscheinlich mit den Stimmen von FDP, CDU und AfD, auch wenn der letzte Beweis dazu sich nie wird erbringen lassen, weil die Wahl geheim ist. Die AfD hatte einen eigenen Kandidaten für die Wahl aufgestellt, Kemmerich war im dritten Wahlgang ebenfalls angetreten - und die Rechten stimmten nun für ihn statt für ihren eigenen Mann.
Das angeblich Undenkbare und doch mindestens Absehbare war eingetreten. Und doch sagt Kemmerich nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses nicht das, womit er den Plenarsaal als Held hätte verlassen können. Nämlich, dass er diese Wahl nicht annehmen könne. Als Landtagspräsidentin Birgit Keller (Linke) ihn fragt, ob er die Wahl annehme, steht er auf, knöpft seine Jacke zu und sagt: »Ich nehme die Wahl an.«
Bei Rot-Rot-Grün und vor allem bei Ramelow danach: blankes Entsetzen. Bei CDU und FDP: betretenes Schweigen. Bei den Zuschauern: ungläubige Blicke. Dieser Moment ist der Auftakt zu irren vier Wochen in Erfurt und in Deutschland, in denen es nur noch um Schadensbegrenzung und darum geht, rückgängig zu machen, was hier geschehen ist.
Demokraten müssen Haltung zeigen
Die Thüringer Landes- und Fraktionschefin der Linken, Susanne Hennig-Wellsow, bilanziert die Folgen des Schocks des 5. Februar 2020
Doch das Foto bleibt. Es zeigt, wie Thüringens AfD-Fraktionschef Björn Höcke Kemmerich zur Wahl gratuliert, die eine von Höckes Gnaden ist. Der Tabubruch ist da: Eine Partei, die sich als fest in der bürgerlichen Mitte verwurzelt glaubt, hat ausgerechnet mit dem AfD-Landesverband gemeinsame Sache gemacht, der so offen rechts ist, dass selbst der Verfassungsschutz ihn etwa vier Wochen später zu einem »Verdachtsfall« erklären wird. Wenig später wird eine historische Aufnahme in Onlinemedien verbreitet, an die mindestens einer der auf dem Foto vom Februar 2020 Abgebildeten, das legt seine Pose nahe, wohl durchaus gedacht haben dürfte: Sie zeigt den Handschlag zwischen Adolf Hitler und dem damaligen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg, der im März 1933 den Beginn der Naziherrschaft markierte.
In ganz Deutschland beginnen noch am Abend des 5. Februar Massenproteste gegen die Wahl. Kemmerich kündigte unter dem Druck der Öffentlichkeit und aus der Bundespolitik bereits am Folgetag seinen Rückzug an und erklärte, er trete für eine vorgezogene Neuwahl des Landtages ein. Weitere zwei Tage später trat er offiziell zurück. Bis zur Wiederwahl von Bodo Ramelow zum Ministerpräsidenten am 4. März bekleidete Kemmerich das Amt noch geschäftsführend.
Doch seit jenem 5. Februar 2020 ist die Thüringer Landespolitik wie die Landespolitik auch in den anderen ostdeutschen Bundesländern immer wieder vor die Frage gestellt, wie sich eine Situation wie diese sicher verhindern lässt. Also eine, in der die Stimmen der Rechtspopulisten den Ausschlag für oder gegen eine Personal- oder Sachentscheidung geben; wie die oft zitierte »Brandmauer« gegen Rechts wirklich so stark gemacht werden kann, dass vor allem CDU und FDP sie nicht einreißen. Die Aushandlung des »Stabilitätsmechanismus« zwischen Rot-Rot-Grün und der CDU in Thüringen stand ebenso im Zeichen dieses Dilemmas wie das Taktieren der Landespolitik in Sachsen-Anhalt beim Konflikt um den Rundfunkstaatsvertrag.
Wozu das auch sachpolitisch führen kann, ließ sich jüngst zum Beispiel beim Konflikt um Windräder in Thüringens Wäldern beobachten. Rot-Rot-Grün wollte Windkraftanlagen im Wald zulassen, CDU, FDP und AfD nicht. Letztere drei Parteien haben eine Mehrheit im Landtag. Sie hätten das Verbot also gemeinsam beschließen können. Um das zu verhindern, gaben die Parteien der Minderheitsregierung schließlich nach und beschlossen gegen die eigenen Überzeugungen das zumindest vorläufige Aus für Windräder in Thüringer Wäldern - eben um ein gemeinsames Votum von Liberalen und Konservativen mit der AfD zu verhindern.
Der 5. Februar 2020 ist mithin im Osten so sehr Geschichte, wie die Furcht vor einer Wiederkehr einer solchen Situation zumindest im Osten Alltag ist.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.