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Revolte der autoritären Kleinbürger

Längst nicht nur organisierte Neonazis und Fundamentalisten: Die sozialen Hintergründe der Kapitolstürmer lassen sich nicht leicht auf einen Nenner bringen

  • Paul Simon
  • Lesedauer: 4 Min.

Während beim Impeachment-Verfahren Trumps persönliche Verantwortung im Vordergrund steht, versuchten Experten in den vergangenen Wochen eine andere Frage zu ergründen: Wer waren die Tausenden Menschen, die am 6. Januar das Kapitol stürmten und mit der Polizei kämpften? Und was trieb selbst bisher unauffällige Bürger dazu, auf Trumps Geheiß hin derart militant den eigenen Staat anzugreifen?

Sicher, eine wichtige Rolle bei den Ereignissen des 6. Januar spielten organisierte Rechtsextreme und Neonazis. Die rechte Straßengang Proud Boys, schwer bewaffnete Milizen, die antisemitische Traditional Workers Party oder die Hawai-Hemden tragenden Mitglieder des Boogaloo Movements - zahlreiche radikale Gruppen schwammen im Mob der Trump-Anhänger wie Fische im Wasser. Der bekannte Neonazi und Alt-Right-Influencer Tim Gionet alias »Baked Alaska«, den das FBI wenig später in Texas verhaftete, streamte alles live im Internet. Auch christliche Symbolik und selbst Gebetskreise waren zu sehen, denn Fundamentalisten zählen zu Trumps treuesten Anhängern.

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Doch viele der Demonstranten hatten überhaupt keine Verbindung zum organisierten rechten Milieu. Die Universität Chicago untersuchte 193 Menschen, die wegen der Kapitolstürmung bereits angeklagt wurden. Nur zehn Prozent von ihnen waren Mitglieder oder Unterstützer bekannter rechter Gruppen. Auch ihr demografisches Profil unterscheidet sich von dem typischer gewaltbereiter Rechtsextremer. Zwei Drittel sind über 35 Jahre alt, und 40 Prozent von ihnen sind in Büroberufen angestellt oder haben ein eigenes Unternehmen. »Sie arbeiten als Manager, Geschäftsinhaber, Ärzte, Anwälte, IT-Spezialisten und Buchhalter«, schreiben die Autoren der Studie im Magazin »The Atlantic.«

Eine Untersuchung der Washington Post verkompliziert das Bild weiter. Die Zeitung analysierte die finanzielle Situation von 125 Menschen, die wegen des Kapitolsturms vor Gericht stehen. Fast 60 Prozent von ihnen hatten in den letzten 20 Jahren finanzielle Probleme wie Privatinsolvenzen, Zwangsräumungen, unbezahlte Rechnungen oder Steuerschulden. Ein Fünftel musste darum fürchten, das Haus zu verlieren.

»Was wir hier sehen, ist nicht nur ein Gefühl der ökonomischen Unsicherheit, sondern auch ein tiefsitzendes Gefühl der Prekarität der persönlichen Situation«, zitiert die Zeitung die Extremismusexpertin Cynthia Miller-Idriss. »Diese Prekarität - kombiniert mit dem Gefühl, betrogen worden zu sein, und Wut darüber, dass jemand ihnen etwas weggenommen hatte, mobilisierte an diesem Tag viele Menschen.«

Seit Trumps Wahlerfolg 2016 wird kontrovers darüber diskutiert, wie wichtig ökonomische Motive bei seinen Wählern waren. Es sprach zunächst viel dafür: Trump machte mit seiner nationalistischen Rhetorik die »globalistischen« Wirtschaftseliten für den Verlust der Industriearbeitsplätze und die wirtschaftliche Stagnation nach der Finanzkrise verantwortlich. Heute verkauft auch Biden seine Wirtschaftspolitik mit diesem nationalen Einschlag: Er verordnet der Bundesregierung eine »Buy American«-Politik und verspricht, weiter Druck auf China auszuüben.

Die These erntete Widerspruch: Besonders Linksliberale betonten, dass die Motive der Trump-Wähler nicht in einer wirtschaftlichen Notlage, sondern in ihrem Rassismus zu suchen seien. Die Vorstellung, dass die von der Globalisierung gebeutelten Arbeiter in den »Rostgürteln« aus Notwehr Trump gewählt hätten, wiesen sie als Verharmlosung zurück. In der Finanzkrise hatten schwarze Amerikaner am meisten gelitten, aber Trump wählten gerade sie nicht. Tatsächlich waren Trump-Wähler durchschnittlich wohlhabender als die der Demokraten, und als Präsident diente Trump derart schamlos Kapitalinteressen, dass man ihn kaum als Sozialpopulisten bezeichnen konnte.

Aber ganz so einfach ist es nicht. Man muss nicht arm oder von Deindustrialisierung betroffen sein, um wirtschaftliche Unsicherheit zu verspüren. Es reicht schon, Angst davor zu haben, etwas zu verlieren. Der US-Konservatismus radikalisierte sich nach der Finanzkrise, weil das weiße, konservative Amerika das Gefühl hatte, dass ihm die gesellschaftliche Hegemonie entgleitet. Aber auch, weil viele vermögende Menschen aus der Mittelschicht fürchteten, der »Sozialist« Barack Obama werde ihren fragil erscheinenden Wohlstand umverteilen. Die Coronakrise, die vor allem kleinere Unternehmen hart trifft, könnte eine ähnliche Wirkung haben.

Die Debatten zum sozialen Hintergrund des Mobs sind längst nicht abgeschlossen. Bei den Kapitolstürmern handelte sich offenbar zu weiten Teilen um die klassische soziale Basis der radikalen Rechten: Aggressiv und autoritär gewordene Kleinbürger, die sich an einen starken Mann halten, der für sie kämpfen soll.

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