Blockade durch die großen Blöcke

Die neue WTO-Chefin soll ihre Organisation aus der Lähmung führen

  • Hermannus Pfeiffer
  • Lesedauer: 4 Min.

Mit der Wahl Joe Bidens zum Präsidenten der Vereinigten Staaten war der Weg für sie frei. Am späten Montagnachmittag bestätigte das Leitungsgremium der Welthandelsorganisation (WTO), dass Ngozi Okonjo-Iweala neue Generaldirektorin wird. Damit endet eine mehrmonatige Führungslosigkeit. Im Mai 2020 hatte ihr Vorgänger Roberto Azevedo überraschend angekündigt, Ende August vorzeitig zurückzutreten. Doch die damalige US-Regierung unter Präsident Donald Trump hintertrieb die Neubesetzung des Postens, unter anderem, indem laufend neue Kandidaten aus dem Hut gezaubert wurden.

Und nicht nur das: Trumps protektionistische Politik nach dem Motto »America first« verhinderte die Nachbesetzung freigewordener Richterstellen in der Berufungsinstanz des WTO-Streitschlichtungsgremiums, das dadurch handlungsunfähig wurde. Die wichtigste Einrichtung der UN-Sonderorganisation spielt etwa im Dauerstreit um staatliche Subventionen für die Flugzeughersteller Airbus (EU) und Boeing (USA) eine wichtige Rolle. »Ohne ein System, das die Einhaltung der Handelsregeln garantiert, kann die WTO nicht richtig funktionieren«, kritisierte Okonjo-Iweala im August in einem Interview mit einer deutschen Zeitung. Die Richter wurden allerdings auch in Japan und der EU kritisiert, weil sie in Handelsfragen faktisch Recht setzten und nicht nur bestehende Regeln interpretierten.

WTO-Historie

Die Welthandelsorganisation (WTO) wurde 1995 auf dem Höhepunkt der Globalisierungswelle gegründet, um den bisherigen GATT-Freihandelsverhandlungen einen institutionellen Rahmen zu geben. Als Ziele wurden der weitere Abbau von Handelshemmnissen und die Liberalisierung des internationalen Handels vorgegeben. Dafür sollten entsprechende verbindliche Regelwerke geschaffen oder weiterentwickelt werden. Wichtigstes Entscheidungsgremium der WTO ist die mindestens alle zwei Jahre stattfindende Ministerkonferenz der aktuell 164 Mitgliedstaaten. Die laufenden Geschäfte werden vom WTO-Rat am europäischen UN-Standort Genf (Schweiz) geführt. Gleichzeitig gibt es hier ein Komitee, das bilaterale Streitigkeiten über Handelshemmnisse oder Marktverzerrungen durch nationale Subventionen beilegen soll.

Anfangs dominierten in der WTO die großen Industriestaaten, die auf weltweite Marktöffnungen für ihre Produkte drangen. Dies stieß im Laufe der Jahre zunehmend auf Widerstand. Entwicklungsländer, die die Mehrheit der WTO-Staaten stellen, forderten immer offensiver, dass ihre Belange besser berücksichtigt werden müssen. Der Aufbau von Industrien benötige Schutz vor Importen aus den Industriestaaten. Nichtregierungsorganisationen unterstützen diese Position und protestierten zudem gegen die schädlichen Folgen eines Freihandelsregimes, bei dem Sozial- und Umweltstandards hinten runterfallen. Endgültig lahmgelegt wurde die WTO dann durch den Protektionismus der US-Regierung unter Donald Trump, die sich in Handelsfragen nicht mehr an internationale Regelwerke gebunden fühlte. KSte

Doch schon vor Trumps Blockadehaltung war die Welthandelsorganisation auf dem absteigenden Ast. Sie war vor 25 Jahren gegründet worden, um die internationalen Handels- und Wirtschaftsbeziehungen in der aufstrebenden Globalisierung neu zu regeln. Die WTO wurde neben Internationalem Währungsfonds und Weltbank zur wichtigsten Institution im Bereich Weltwirtschaft. Sie wollte aber nicht etwa Gerechtigkeit im Handel herstellen, kritisierten seit ihrer Gründung linke Ökonomen, Parteien und Nichtregierungsorganisationen. »Vielmehr«, heißt es etwa beim Verein Weltwirtschaft, Ökologie & Entwicklung (WEED), »ging es um die globale Durchsetzung von Eigentumsrechten und die Ausweitung von Märkten.« Kritiker warfen der WTO zudem Konzernnähe, mangelnde Transparenz und eine Benachteiligung des globalen Südens vor. Andere sahen und sehen aber in der Welthandelsorganisation eine Chance, den Kapitalismus durch globale Regeln ein Stück weit einzuhegen.

Das westliche Modell aus Marktwirtschaft und »Postdemokratie«, wie es der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch bezeichnet, schien nach dem Untergang des Realsozialismus zum Exportschlager zu werden. Doch der beispiellose Aufstieg Chinas änderte die globalen Kräfteverhältnisse, auch in der WTO. Der »nördliche« Multilateralismus geriet in die Defensive. Zudem ließen die unterschiedlichen Interessen von reichen und bitterarmen Staaten, export- und importgetriebenen Volkswirtschaften mit sehr unterschiedlichen politischen Systemen die WTO letztlich zur lahmen Ente schrumpfen.

Statt multilateraler Verträge bestimmen zweiseitige und regionale Abkommen zunehmend das Geschehen. Unter Generaldirektor Azevedo wurden keine wegweisenden WTO-Abkommen mehr abgeschlossen. Dagegen hat sich die Zahl an, aus Sicht der Exportwirtschaft, handelsbeschränkenden Maßnahmen in den vergangenen zehn Jahren verfünffacht. Der Aufstieg Trumps und dann auch die Corona-Pandemie verstärkten die protektionistischen Tendenzen noch. Allein in den vergangenen zwölf Monaten haben die WTO-Mitgliedstaaten 114 pandemiebedingte Handelsrestriktionen erlassen.

Die neue Generaldirektorin Okonjo-Iweala tritt am 1. März also einen komplizierten Job an. Und die Erwartungen an sie sind groß. Die Entwicklungsländer erwarten sich von der Westafrikanerin, dass ihre Interessen mehr gehört werden. Das gilt auch für Wirtschaftsverbände aus dem globalen Norden. Die Neubesetzung des WTO-Chefpostens sei ein »Befreiungsschlag«, der die Chance biete, »wieder klare Wettbewerbsregeln von den Mitgliedern einzufordern und die in den vergangenen Jahren zugenommenen Handelsspannungen zu entschärfen«, verlautete vom Bundesverband der deutschen Industrie. Ökonomen bremsen die Erwartungen: Angesichts der Interessengegensätze zwischen den 164 Mitgliedsländern seien »bestenfalls minimalistische Abkommen denkbar«, so der Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, Gabriel Felbermayr. Das liege auch an den weiter bestehenden Spannungen zwischen den Blöcken USA, China und EU. Ob der neue US-Präsident den Konflikt entschärfen wird, ist umstritten. Auch Joe Biden folgt wohl einer »America-first«-Agenda.

Okonjo-Iweala sieht zunächst aber andere Prioritäten als eine grundsätzliche Reform ihrer Organisation. Zunächst müsse die WTO »Erfolge und Resultate« bei der Bekämpfung der wirtschaftlichen und gesundheitlichen Folgen der Corona-Pandemie erzielen. Neue Töne aus der WTO sind es auch, wenn Okonjo-Iweala Handel als Motor für »nachhaltiges« Wachstum bezeichnet. Auch Themen wie eine mögliche Aufhebung des Patentschutzes für Corona-Impfstoffe oder der grenzüberschreitende Handel mit Klimaschutzzertifikaten werden die WTO beschäftigen. Allerdings gilt natürlich auch für die neue Generaldirektorin: Ihr Handlungsspielraum wird von den Interessen der mächtigsten Mitgliedstaaten begrenzt.

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