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Männlichkeitsbonus beenden
IN SCHLECHTER GESELLSCHAFT: Wenn sich Idole als Täter rausstellen, muss das Konsequenzen haben. Auch im Verhalten der Fans
Gegen Marilyn Manson stehen schwere Vorwürfe im Raum: Sexualisierte, psychische und antisemitische Gewalt, sexueller Missbrauch von Minderjährigen und Menschenhandel. Nun, ich bin keine Richterin, als Feministin glaube ich den Betroffenen instinktiv und als Ex-Fan von Manson weiß ich, dass er in seiner Arbeit genug Anzeichen gewalttätigen Verhaltens geliefert hat.
Ich war 16 Jahre alt, hatte einen Freund, der in einer Band spielte und sich für James Hetfield hielt. Ich war Sängerin und hielt mich für Courtney Love. Ich habe geträumt, dass er und ich zusammen Rockstars werden. Als wir uns trennten, hörte ich tagelang das Album »Antichrist Superstar« von Marilyn Manson und trauerte.
Das war ohnehin eine schwierige Lebensphase – ich wusste nicht, wer ich war, außer, dass ich überall »die Andere« war: Kurdin in einer türkischen Stadt. Alevitin, aber ungläubig. Untere Mittelschicht, aber als Aufsteigerin, die einen Teil ihrer Kindheit in Armut lebte. Das schienen andere mir anzusehen. Ich existierte in ständigen Zwischenräumen und brauchte etwas, um meinen Platz zu finden.
Auf düstere, schmerzhafte Weise fügte Mansons Musik die Stücke meiner Identität zusammen. Als Teenagerin wollte ich mich nämlich nur durch Musik definieren, nichts anderes spielte eine so große Rolle in meinem Leben. Ein paar Jahre später ließ ich mir einen Teil des Covers von »Antichrist Superstar« tätowieren. Es ging nicht um Mansons Person, sondern um die Erfahrungen, die ich in Begleitung seiner Musik machte. Manson wurde zu einem Teil meiner Biografie.
2007 nahmen meine beste Freundin und ich an einer Verlosung teil und gewannen zwei Karten für ein Marilyn-Manson-Konzert, das am nächsten Tag in Istanbul stattfinden sollte. Wir buchten sofort Bustickets, hatten nämlich eine zwölfstündige Fahrt vor uns. Schnell packte ich mir eine Tasche zusammen und legte meiner Mutter einen Zettel hin: »Ich fahre nach Istanbul auf das Marilyn-Manson-Konzert.«
Wir lachten während der gesamten Fahrt und hatten die beste Zeit. Als unser Bus an einer Raststätte eine Pause machte, bestellten wir Pommes. Als die fertig war, rief die Verkäuferin »Einmal Ponfirik!« statt »Pommes Frites« – das wurde unser Running Gag, Jahre später lachten wir noch, wenn eine von uns plötzlich »Ponfirik!« schrie. Als wir auf dem Festivalgelände ankamen, waren wir so schick wie nie. Es war unser Moment. Bis heute ist das eine der wichtigsten Erinnerungen, die ich mit meiner Freundin teile.
Meine jahrelange Zuflucht in Mansons Musik verlieh ihm einen besonderen Status. Ich hielt die Gewalt in seinen Texten und Videos für Teil seiner Person, für künstlerischen Ausdruck von Einsamkeit und Schmerz. Dabei soll er jahrelang gewalttätig gewesen sein. Aber auch ich gab ihm einen Männlichkeitsbonus und ließ ihm vieles durchgehen. Egal, was er von sich erzählte, ich dachte: Das meint er nicht so. Er schminkt sich. Er gibt sich den Vornamen einer Schauspielerin. Er bricht mit Tabus. Er kann nicht so toxisch männlich sein. Oder doch?
Das wahre Drama: Verharmlosung. Berichterstattung über Gewalt gegen Frauen benennt diese selten als strukturelles Problem.
Im Schatten der aktuellen Vorwürfe schäme ich mich und bin ratlos, was ich mit dem Teil meiner Vergangenheit machen soll. Und vor allem mit meiner Tätowierung.
Ich spreche mit meiner Tätowiererin, wir entscheiden uns, es zu überstechen, sobald sie wieder arbeiten darf. Manson soll nicht mehr an meiner Haut geehrt und verewigt werden, das verdient er nicht. Da ist zwar kein Name, keine Wörter, kein Gesicht dabei – das Motiv führt nicht direkt zu ihm, aber ich weiß, wofür das Tattoo steht.
Weder kann ich die Zeit zurückdrehen und auf Mansons Musik verzichten, noch kann oder will ich aufhören, eine Feministin zu sein. Cis-Männer tun zwar so, als wären sie die Einzigen, die ihre Idole verlieren, wenn diese als untragbar enthüllt werden. Sie schreien von einer vermeintlichen Cancel Culture, als wären die Opfer die wahren Täter*innen. Dass manchmal auch Feminist*innen Teile ihrer Biografie neu einordnen müssen, wird komplett außer Acht gelassen. In dieser Umkehr der Machtverhältnisse vergessen wir, worum es geht: um Prinzipien. Darum, dass Machtmissbrauch Konsequenzen haben muss.
Ich fühle mich so, als hätte mir Marilyn Manson ein Stück meiner Vergangenheit genommen, und auf einer Ebene tat er das auch. Aber ich weiß, dass er nicht die Macht hat, andere zu definieren – weder seine Opfer, noch seine Ex-Fans. Wir definieren ihn, so rum funktioniert das.
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