- Sport
- Fußball und Corona
Spott aus der Arroganz-Arena
In der Champions League und der Europa League verspielt der Fußball endgültig seine Glaubwürdigkeit
Budapest oder Lissabon, Hauptsache Italien. Jürgen Klopp war am späten Dienstagabend etwas ratlos. Der Auftritt seiner Fußballer war nicht der Grund: Der FC Liverpool hatte gerade das Hinspiel im Achtelfinale der Champions League mit 2:0 gegen RB Leipzig gewonnen. Es war die Frage nach dem Rückspiel, auf die Klopp keine Antwort fand. »Vielleicht spielen wir ja wieder hier«, sagte Liverpools Trainer – und stand dabei in den Katakomben der Budapester Puskas-Arena.
»Es war ein gutes Spiel«, urteilte, wortgleich wie Klopp, dessen Leipziger Kollege Julian Nagelsmann. Das Sportliche dieser Begegnung ist schnell erzählt: Beide Teams begegneten sich auf Augenhöhe, Liverpool hatte aber letztlich mehr vom Spiel sowie mehr und bessere Torchancen. Zwei davon verwerteten die Stürmer Mohamed Salah und Sadio Mane nach torloser erster Halbzeit in der Anfangsviertelstunde des zweiten Durchgangs. Und obwohl beide Treffer durch grobe individuelle Fehler der Leipziger begünstigt wurden, siegte Liverpool verdient. Somit scheint selbst ein taumelnder englischer Riese zu groß für den Tabellenzweiten der Bundesliga: Liverpool steht nach nur drei Siegen in den letzten zehn Spielen in der Premier League auf Rang sechs – und hatte zum gleichen Zeitpunkt der Vorsaison 30 Punkte mehr erspielt.
Weitaus interessanter – und wichtiger – als Pressing, Gegenpressing, Laufwege, Pässe und Handlungsschnelligkeit auf Spitzenniveau sind die Rahmenbedingungen dieser Paarung. Die Leipziger hatten ihr Heimspiel wegen des in Deutschland geltenden Einreiseverbotes für Menschen aus Ländern mit einem erhöhten Auftreten von Mutationen des Coronavirus nach Budapest verlegt. Um sich 650 Kilometer fernab der sächsischen Heimat zumindest ein wenig wie zu Hause zu fühlen, wurde das Innere der Puskas-Arena mit Bannern von Fanklubs bespannt. Selbst der Leipziger Stadionsprecher durfte mitreisen.
Nun ist das Reisen derzeit eine äußerst heikle Angelegenheit. Ganz konkret: Ungarn ist beim Auswärtigen Amt noch immer als Risikogebiet gelistet. Und nach ungarischen Einreisebestimmungen hätte die Partie in dieser Art auch nicht in Budapest angepfiffen werden dürfen – also gab es kurzerhand eine Sondergenehmigung. Alle Details der verwirrend komplexen Situation wird Julian Nagelsmann nicht kennen, er weiß sie aber sehr gut einzuschätzen. Es sei nachvollziehbar, dass die Austragung des Spiels, Hunderte Kilometer entfernt vom Ursprungsort, hinterfragt werde, sagte er noch vor dem Anpfiff.
Kevin Kampl dachte nach der Partie in Budapest schon an das Rückspiel. »Es wäre bitter, wenn wir nicht an der Anfield Road spielen könnten, das will doch jeder Fußballer«, sagte Leipzigs Mittelfeldspieler. Sollten die Rasen-Ballsportler am 10. März im legendären Stadion des FC Liverpool auflaufen, droht ihnen nach der in Sachsen derzeit geltenden Corona-Schutzverordnung aber eine zweiwöchige Quarantäne. Derart fremdgesteuerte Eingriffe in seinen eng gestrickten Terminkalender konnte der hiesige Profifußball seit Wiederaufnahme des Spielbetriebs im vergangenen Mai bislang erfolgreich abwehren.
Allein die Ungewissheit um das Rückspiel zwischen Liverpool und Leipzig – und die Entwicklung der Pandemie im Allgemeinen – zeigt: Budapest ist kein Einzelfall. Und sie erklärt auch die Verwirrung von Jürgen Klopp. Denn schon jetzt wurden insgesamt acht Partien zum Jahresstart im Europapokal geografisch verlegt. Im Fall eines Spielausfalls bestraft die Uefa nämlich das Heimteam mit einer 0:3-Niederlage. Weil Europas Verband aber seine lukrativen Wettbewerbe komplett durchziehen möchte, hat er eine Liste mit Alternativspielorten in Ungarn, Russland, Polen, Griechenland, Zypern und der Türkei erarbeitet. In Rumänien, Spanien und Italien haben ausländische Teams ihre Heimspiele in dortigen Spielorten schon terminiert.
Die Frage nach dem Geld – also ob oder besser: wie das finanziell geregelt wurde – muss man dabei gar nicht stellen. Die Sinnfrage reicht: Müssen Mannschaften aus Ländern wie Norwegen und Deutschland mit einer Inzidenz von 32 beziehungsweise 58 quer durch Europa reisen, um in Spanien bei einem Inzidenzwert von 207 zu spielen? Ja, meint der Fußball: An diesem Donnerstag empfängt Molde FK die TSG Hoffenheim zum Spiel in der Europa League in Villarreal.
Kritik am System Profifußball gab es schon immer. Symbolisch für die Entfremdung von jeglicher Lebensrealität stand der Wechsel des Brasilianers Neymar vom FC Barcelona zu Paris St. Germain im Sommer 2017 für 222 Millionen Euro. Doch erst als die Pandemie das Leben der meisten Menschen im Frühjahr 2020 dramatisch einschränkte, schien ein Wandel möglich. Die Kritik nahm in nie erlebter Masse und Schärfe zu. Der Fußball traf plötzlich auf eine gesamtgesellschaftliche Ablehnung, politische Entscheidungsträger inbegriffen. Mit vielen Versprechungen auf Besserung und noch mehr Geld kaufte er sich frei. Verändert hat sich seitdem nichts: Trotz Staatshilfen in der Coronakrise fordern die meisten Bundesligisten keinen Gehaltsverzicht von ihren Profis – und geben weiterhin insgesamt mehr als 1,5 Milliarden Euro pro Jahr für ihr Personal aus. Während das Leben in großen Teilen der Welt stillsteht und die langfristigen Folgen der schon jetzt für viele existenzbedrohenden Pandemie nicht mal ansatzweise abzusehen sind, verspielt der Profifußball mit nicht erklärbaren Europapokalreisen endgültig seine Glaubwürdigkeit. Aber nur unverbesserliche Optimisten glauben, dass dies Konsequenzen haben wird.
Weit gereist ist zuletzt auch der FC Bayern. Aus Katar kam er Ende vergangener Woche nach zwei Spielen mit dem Weltpokal zurück. Und mit einem coronainfizierten Thomas Müller. »Wird mit zweierlei Maß gemessen?«, fragte sich danach Stefan Holz. Er ist Geschäftsführer der Basketball-Bundesliga. Dort müssen im Vergleich zum Fußball trotz »identischer Regularien« ganze Mannschaften in Quarantäne. In anderen Sportarten fallen Europapokalspiele komplett aus. Karl Lauterbach ist sich sicher, »dass mit zweierlei Maß gemessen wird«. Der SPD-Gesundheitsexperte kritisierte damit ausgehend vom Reiseverbot mit einer Corona-Infektion speziell den Rückflug Müllers in einem vom FC Bayern gecharterten Privatjet. Im Allgemeinen verwies Lauterbach auf falsche Signale in die Gesellschaft: »Den Bürgern raten wir zu Recht von jeder unnötigen Reise ins Ausland ab, und der internationale Fußball setzt sich über diese Regeln einfach hinweg.«
So viel Bevormundung ging selbst dem eher ruhigen Münchner Trainer zu weit. Hansi Flick nannte Lauterbach einen »sogenannten Experten«, der lieber Positives im Kampf gegen Corona vermelden solle. Demut in der Arroganz-Arena, weitverbreiteter Spitzname des Münchner Stadions, kennt man eh nicht. Solcherart Spott aus der an Vorzügen so reichen Blase in einer weltweiten Gefahrenlage ist eine unerträglich neue Dimension.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.