- Politik
- Corona-Pandemie
»Vacunagate« macht in Peru Schlagzeilen
Corona-Impfskandal bis in die höchsten Ebenen potenziert politische Probleme
Die illustre Liste vorzeitig geimpfter Politiker in Peru beginnt ganz oben: Mit Ex-Präsident Martín Vizcarra und seiner Ehefrau. Auch die Außenministerin Elizabeth Astete findet sich darauf: Jetzt ist sie Ex-Außenministerin, weil sie nicht mal den amtierenden Interimspräsidenten Francisco Sagasti darüber informiert hatte. Astete und die Vizcarras finden sich neben der ebenfalls zugrückgetretenen Gesundheitsministerin Pilar Mazzetti auf einer Liste mit 467 Personen, die allesamt ihre politischen Ämter ausgenutzt haben, um sich vorfristig impfen zu lassen. »Diese Leute, die Teil unserer Regierung waren, haben nicht ihre Pflicht als Beamte erfüllt«, sagte Sagasti in einer im Fernsehen übertragenen Rede.
Die Regierung hatte eine Million Dosen eines Impfstoffs des chinesischen Unternehmens Sinopharm gekauft, um zunächst medizinisches Personal zu impfen. »Es bestätigt sich, dass Priorität nicht Kollegen auf den Intensivstationen hatten, die dem Tod 24 Stunden in Folge ausgesetzt waren, sogar ohne Pausen für Essen«, sagte der Präsident des Medizinerverbands, Godofredo Talavera. Jetzt hat das Wort die Staatsanwaltschaft, der die Liste übergeben wurde - wenige Wochen vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 11. April. In den Medien macht das Wort von »Vacunagate« die Runde.
Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Wie auch anderswo potenziert in Peru die Pandemie die gesellschaftlichen Konflikte. Erst im November kam es zu einem »parlamentarischen Putsch«, wie es der Jurist Alonso Gurmendi bezeichnete. Nach massiven und landesweiten Protesten trat der eingesetzte Interimspräsident Manuel Merino zugunsten des Mitte-rechts-Politikers Francisco Sagasti zurück. Der ehemalige Chef der Abteilung für strategische Planung der Weltbank, schaffte es in den Tagen nach seiner Amtseinführung am 16. November breite Teile der Bevölkerung mit Versprechen ruhig zu stellen. Kurz darauf entflammten jedoch Agrarproteste vom Süden bis zum Norden des Landes. In den zuvor gegründeten Nachbarschaftskomitees wurde sich landesweit solidarisiert; ein umstrittenes Gesetz aus den 1990er Jahren, welches das Arbeiten unter dem Mindestlohn ermöglichte, wurde daraufhin aufgehoben.
Inmitten dieser Tumulte wurden in den Morgenstunden des 2. Dezember in der peruanischen Hauptstadt 94 Häuser von Spezialeinheiten der Polizei gestürmt und 77 Personen festgenommen. Unter den Verhafteten sind Studierende, Rechtsanwälte und ehemalige politische Gefangene, die teilweise bereits 25 Jahre Strafe abgesessen haben. »Sogar eine Mutter, die ihr Baby noch stillt, ist dabei«, erklärt Micaela Peralta* gegenüber »nd«. Die 28-Jährige ist Lehrerin und in einer linken Künstlergruppe, der »Artistas Populares«, in Lima aktiv. Der Innenminister José Elice Navarro verkündete kurz nach den Verhaftungen im Dezember, dass die Operation dazu diene, »Mitglieder einer terroristischen Organisation« hinter Gitter zu bringen.
Den Verhafteten wird politische Verschwörung in Verbindung mit der Kommunistischen Partei Perus-Leuchtender Pfad (PCP-SL) unterstellt. Die maoistische PCP-SL stand dem peruanischen Staat von 1980 bis 2000 bewaffnet gegenüber. Carlos Alva* ist 30 Jahre alt und hat mit einigen der Familiengehörigen vor dem Untersuchungsgefängnis der Direktion für Terrorismusbekämpfung (Dircote) in der peruanischen Hauptstadt gesprochen: »Wir sind mit einer sehr ernsten Tatsache konfrontiert, die die Meinungsfreiheit bedroht und den Protest kriminalisiert.« Der Reporter und Künstler hat sich mit Theaterstücken im Gefängnis politisiert, welche er mit einem Kunstkollektiv von draußen und politischen Gefangenen drinnen als Jugendlicher durchführte, bevor er zum Trotzkismus fand: »Das ist einfach die volle Wucht der Klassenjustiz, was wir hier erleben.« Da die meisten Anwälte der Aktivistinnen und Aktivisten selber verhaftet wurden, dauerte es, ad hoc neue Anwaltsteams zusammenzustellen.
Die Dircote, Anti-Terror-Abteilung der peruanischen Nationalpolizei, verbot über Tage jedweden Kontakt zu den Gefangenen. Selbst Familienangehörige, die sich über die Situation ihrer Kinder, Geschwister und Verwandten, teils ältere Menschen mit diversen Vorerkrankungen, informieren wollten, wurde lange keine Auskunft gegeben. Die Inhaftierten wurden Mitte Dezember in zwei Gruppen geteilt und eine davon in ein Untersuchungsgefängnis für Drogendelikte verlegt. Mittlerweile haben diese zwar Zugang zu Anwälten, aber nur sporadisch. Die Anklageschrift umfasst 1200 Seiten.
Angehörige hoffen nach wie vor jeden Tag, mit Lebensmitteln und Kleidung zu ihren Lieben vorzudringen. »Ob das, was wir mitbringen, durchkommt, wird täglich neu von den Wärtern entschieden«, so eine Angehörige auf einem Video. Am 17. Februar sind nun die ersten Gefangenen in Hausarrest entlassen worden - 3000 bis 10 000 Neue Peruanische Soles (umgerechnet etwa 680 bis 2270 Euro) mussten sie hierfür zahlen. Die Gerichtsprozesse stehen noch an.
»Hier geht es um das systematische Verfolgen kritischen Denkens«, steht für Peralta fest. »Diese Verhaftungen sind willkürlich, illegal und unter falschen Anschuldigungen«, erklärt sie mit bedrückter Stimme.
Die beiden linken Parteien im Parlament, der Frente Amplio mit dem Kandidaten Marco Arana und Nuevo Perú mit der Kandidatin Verónika Mendoza, schweigen derweil zu den Verhaftungen.
*Name von der Redaktion geändert
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.