- Politik
- Rassistische Morde in Hanau
Auch hier ein Behördenproblem
Jana Frielinghaus über Faktoren, die rechte Gewalt fördern
Zum ersten Jahrestag des Massakers von Hanau ist die deutsche Gesellschaft so beschäftigt: »Die Zeit« widmet sich der Verletzlichkeit des Mannes, die Polizei in Berlin und Brandenburg kämpft mal wieder mit Hunderten Beamten gegen kriminelle Clans. Kriminelle Clans? Da war doch was. Der Attentäter von Hanau war, bestätigt durch die häufigen Razzien in solchen Lokalen, überzeugt, dass Shisha-Bars der Hort des organisierten Verbrechens seien. Also suchte er solche Orte auf und mordete. Da es sich nach seinem Weltbild sowieso um Leute handelte, die das deutsche Volk zerstören wollen, fühlte er sich befugt für seinen blutigen Feldzug. Dass er Rassist war, räumen auch die Sicherheitsbehörden ein. Doch schuld an seinem »Ausraster« war Experten zufolge - man kennt das, wenn Nazis Leute killen - eine schwere psychische Störung. Trotzdem durfte der Kerl legal zwei Pistolen besitzen.
Die Zahl der Merkwürdigkeiten im Behördenhandeln vor, während und nach dem zehnfachen Mord groß. Genau wie einige Monate zuvor bei den von Rechtsradikalen verübten Mordanschlägen in Halle und Kassel, genau wie bei den Morden des NSU an Migranten, die das Terrornetzwerk sieben Jahre lang völlig ungestört verüben konnte. Weggeschaut, zugeschaut und verharmlost wurde auch bei zahllosen weiteren rassistischen Ausschreitungen und Attentaten in den letzten 30 Jahren: Hoyerswerda, Rostock, Mölln, Solingen, Lübeck oder Düsseldorf-Wehrhahn sind nur einige Beispiele dafür.
Vor einem Jahr, am 19. Februar 2020, ermordete ein Rechtsradikaler in Hanau aus rassistischen Motiven neun Menschen. Danach tötete er seine Mutter und sich selbst. Der Täter war Sportschütze und besaß legal zwei Pistolen. Eine dritte Pistole, die Tatwaffe, lieh er sich bei einem Waffenhändler aus.
Nach dem Massaker gab es zahlreiche Bekenntnisse von Politikern, entschieden gegen Rassismus und Rechtsextremismus vorzugehen. So erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Bezug auf rassistische Einstellungen in der deutschen Bevölkerung: »Wir stellen uns denen, die versuchen, in Deutschland zu spalten, mit aller Kraft und Entschlossenheit entgegen.« Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagte bei einem Treffen mit Angehörigen der Opfer: »Die Wurzeln des Rechtsextremismus reichen tief in unsere Gesellschaft hinein – das ist ein ernstes, ein drängendes Problem.«
Die Publizistin Daniela Dahn formulierte kurz nach dem Anschlag in Hanau Forderungen an die Politik, die »nd« veröffentlichte. Es geht darin um Defizite im Umgang mit Rechtsextremismus und rechter Gewalt, um die Arbeit von Polizei und Geheimdiensten, die konsequente Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. »Wenn die angesprochenen Institutionen nicht beabsichtigen, auf die Forderungen einzugehen, haben sie die Pflicht, dies vor der Öffentlichkeit zu begründen«, schrieb Daniela Dahn.
Wir haben ein Jahr nach dem Anschlag in Hanau die Bundesregierung und die Landesregierungen gefragt, wie sie zu den von Daniela Dahn aufgeworfenen Fragen stehen. Keine Antworten kamen aus Brandenburg, Hessen und Baden-Württemberg. Auf dieser Doppelseite fassen wir wesentliche Aussagen zusammen, an denen sich die Institutionen – Staatskanzleien, Ministerien, Polizei und Verfassungsschutzämter – messen lassen müssen. In den nächsten Wochen werden wir mit Politikern, Verbänden und Initiativen sprechen und die hier wiedergegebenen Auskünfte einer Bestandsaufnahme unterziehen. nd
Immer wieder wurden Menschen mit Einwanderungsgeschichte verletzt und ermordet, immer wieder wurde eher gezielt als einseitig gegen überlebende Angehörige oder Mitbewohner ermittelt. Wenn angesichts dessen und unglaublicher Vertuschungs- und Strafvereitelungstatbestände deutsche Politiker noch heute von Staatsversagen sprechen, dann ist schon das eine Verharmlosung.
Wenigstens die Verdächtigung blieb Eltern, Geschwistern, Partnern der Toten von Hanau erspart. Weil der Täter zweifelsfrei feststand. Doch zu Recht fragen auch sie sich: Hätte der Tod wenigstens der Mehrheit dieser jungen Menschen nicht verhindert werden können? Warum war der Polizeinotruf für Zeugen nicht erreichbar? Und warum können dem Vater des Täters, einem offenkundigen Rassisten und Verschwörungstheoretiker, nicht wenigstens seine Waffen abgenommen werden? Und warum spricht der Präsident des Bundeskriminalamts in diesen Tagen von einsamen rechten Wölfen, die man leider nicht rechtzeitig werde stoppen können, wenn sie eines Tages auf Menschenjagd gehen? Warum können sich militante Rechte jahrelang in Ruhe auf Verbote ihrer Gruppe vorbereiten?
All das und die vielen Einzelfälle von Rassismus und Rechtsradikalismus in Polizei, Bundeswehr, Verfassungsschutz, aber auch in der Justiz zeigt, wie sehr die deutsche Gesellschaft von Rassismus und sogenannter gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit durchsetzt ist. Es bleibt zu hoffen, dass wir, die anderen, wirklich mehr sind und dass es nicht zu spät ist für eine echte Entnazifizierung.
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