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Die Kündigung als letzter Lohn

Mit Beginn der Pandemie wurden Textilarbeiter in Bangladesch entlassen und ausstehende Gehälter nicht mehr gezahlt. Beschäftigte der Dragon-Sweater-Fabrik in Dhaka haben mit internationaler Hilfe einen Teilerfolg erreicht

  • Fabeha Monir
  • Lesedauer: 8 Min.

Eine enge, düstere Gasse führt in das Elendsviertel, in dem Mohammad Abdul Halim mit seiner Familie lebt. Dort, wo Tausende von Textilarbeitern wohnen, mangelt es an allem, was man für ein Leben in Würde braucht. Obwohl er ein Jahrzehnt lang gearbeitet hat, kann sich Halim nicht die Miete für eine Zwei-Zimmer-Wohnung in einer besseren Gegend in Bangladeschs Hauptstadt Dhaka leisten.

»Es ist so ungerecht. Wir haben jahrelang Kleidung für westliche Konzerne produziert. Der Fabrikleiter hat uns immer wie Vieh behandelt. Und jetzt, wo wir unsere Rechte einfordern, werden wir einfach rausgeworfen«, erzählt der ehemalige Strickereiarbeiter Halim. 13 Jahre lang arbeitete der heute 35-Jährige bei Dragon Sweater in Dhaka, zuletzt für monatlich 12 500 Taka (122 Euro). Im März 2020 wurde ihm und den anderen Arbeitern gekündigt. Zehn Monate lang kämpften sie daraufhin dafür, ihre Jobs zurückzubekommen. »Jetzt sind wir erschöpft, fühlen uns gedemütigt. Müssen Arbeiter im 21. Jahrhundert so behandelt werden?«

Das Fabrikgebäude in der Malibagh-Straße ist umgeben von Trubel. Über eine Brücke rauschen Autos. Die Malibagh-Straße selbst ist voller Geschäfte und Restaurants. Hier auf der Straße hat Halim zusammen mit 500 weiteren entlassenen Kollegen monatelang gegen die Kündigung und für die Auszahlung der einbehaltenen Löhne, der Feiertagszuschläge und der bei Entlassungen verpflichtenden finanziellen Entschädigungen in Höhe eines Monatsgehalts demonstriert.

Unbezahlte Überstunden

Dragon Sweater produziert an diesem Standort, der zu den ältesten der Textilbranche zählt, ausschließlich Pullover. Etwa 6000 Arbeiterinnen und Arbeiter verdienen damit ihren Lebensunterhalt. Inzwischen hat die Fabrik automatisierte Maschinen erhalten. Die Arbeit daran erfordert viel Kraft, weshalb es vor allem männliche und kaum weibliche Beschäftigte gibt - eine Ausnahme in der Textilindustrie Bangladeschs, in der mehrheitlich Näherinnen arbeiten.

»Morgens haben wir immer um 8 Uhr mit der Arbeit angefangen. Schluss gemacht haben wir nicht vor 22 Uhr. Manchmal waren wir sogar gezwungen, die Nacht über zu arbeiten. Wir hatten keinen Urlaub und schufteten meistens auch am Freitag in der Fabrik«, erzählt Halim. Der Freitag gehört in Bangladesch zum Wochenende. Die langen Arbeitszeiten und die hohe Arbeitsbelastung erlaubten keine Erholungspausen, selbst der Gang zur Toilette war kaum möglich, berichtet Halim. Die Bedienung der großen Maschinen, der permanente Lärm und die Feuchtigkeit in der Fabrik schlugen sich auf die Gesundheit der Beschäftigten nieder.

Und dafür kam auch noch die Bezahlung regelmäßig mit Verspätung. »Wir haben unseren Lohn niemals vor dem 20. des laufenden Monats erhalten. In anderen Fabriken bekommen die Arbeiter ihren Lohn schon in der ersten Woche.« Seit Jahren kämpfen die Beschäftigten von Dragon Sweater für die pünktliche Auszahlung ihrer Löhne. Oft erhielten sie diese erst mit drei bis vier Monaten Verzug. Sich darüber zu beschweren, war immer mit der Angst verbunden, seinen Arbeitsplatz zu verlieren.

Zakir Islam war sieben Jahre lang ein enger Kollege von Halim und als Mechaniker für die Betreuung der technischen Arbeitsgeräte zuständig. »Wir haben Pullover für Walmart, Primark und New Yorker hergestellt. Als es einmal einen großen Lieferdruck gab, wurden wir verpflichtet, drei Tage am Stück zu arbeiten. Wir mussten 72 Stunden in der Fabrik verbringen. Der Chef hat uns in dieser Zeit nur einmal etwas zu Essen gegeben, unsere Überstunden wurden nicht bezahlt.« Im Laufe der Jahre seien zwar immer mal ausländische Kontrolleure zu einer Überprüfung in die Strickereifabrik gekommen. Aber die Arbeiter hätten ihnen nicht erzählen dürfen, wie es dort wirklich ablief. »Wir mussten lügen.«

Bangladeschs Textilindustrie ist mittlerweile - nach der chinesischen - die zweitgrößte der Welt. Die Branche erwirtschaftete zuletzt einen Umsatz von rund 40 Milliarden Dollar, was 84 Prozent der gesamten Exporte des Landes ausmacht. Für eine Million Textilarbeiter endete das jahrelange Schuften unter unsicheren Arbeitsbedingungen zu Beginn der Corona-Pandemie mit der Kündigung. Sie wurden im März 2020 entlassen, weil nach Schließung der Bekleidungsgeschäfte in Europa und Nordamerika Aufträge in Milliardenhöhe storniert beziehungsweise ausgesetzt wurden und die Exporte einbrachen.

Der Eigentümer und Geschäftsführer der Dragon-Sweater-Fabrik, Mostafa Golam Quddus, ist zugleich Vorsitzender der Dragon-Group, die mehrere Bekleidungsfabriken in Bangladesch unterhält. In einer Liste führte er 433 Beschäftigte der Strickerei auf, die er entlassen habe, aber die betroffenen Arbeiter zählen insgesamt über 500, darunter auch zehn Manager und Verkaufsleiter.

Um die Geschäftsleitung zu zwingen, endlich die überfälligen Löhne auszuzahlen, gingen die betroffenen Arbeiter ständig auf die Straße. Unter ihnen der ehemalige Abteilungsleiter Mohammad Abdul Kuddus, der seit 2002 in der Fabrik arbeitete. Anfang Oktober versammelte er sich zusammen mit Kollegen, um in Fabriknähe eine Menschenkette zu bilden. Dabei wurden sie von einer Schlägertruppe angegriffen. Zeugen erkannten unter den Angreifern einige wieder, die zum Sicherheitspersonal des Eigentümers gehörten und schon oft die Kundgebungen beobachtet hatten. Am Ende mussten zwölf Arbeiter im Krankenhaus behandelt werden. Seitdem steht die Vermutung im Raum, dass die Schläger angeheuert wurden, um die Protestierenden einzuschüchtern. »Wir haben friedlich protestiert«, erzählt Kuddus. »Uns blieb nichts anderes übrig, als auf diese Weise unsere Löhne einzufordern. Dann wurden wir plötzlich körperlich angegriffen, das hat uns alle wütend zurückgelassen.«

Nachdem Beweise für die ausstehenden Zahlungen vorlagen, trafen sich Regierung, Arbeitnehmervertreter, Eigentümer und Vertreter der landesweiten Organisation der Bekleidungshersteller und -exporteure, um die festgefahrene Situation zu beenden. Im Oktober 2020 unterzeichneten die Vertreter eine dreiseitige Vereinbarung, in der die Arbeiter auf einen Teil ihrer Forderungen verzichteten und dafür ab Anfang November in drei Raten einen Teil ihrer Gehälter ausbezahlt bekommen sollten. Doch laut Kuddus wurde nicht einmal die erste Rate bezahlt. Trotz aller Bemühungen schien der Kampf verloren. »Einige von uns haben dennoch weitergekämpft.«

Hilfe von Gewerkschaften

Abdul Salam von der National Workers Alliance gehört zu denen, die die Arbeiter von Dragon Sweater von Anfang an unterstützten. Der Gewerkschafter empört sich: »Ich kämpfe schon seit 15 Jahren für die Rechte der Textilarbeiter. Aktuell geht es den Fabrikbesitzern vor allem darum, die Gewerkschaften auszuschalten, um langfristig uneingeschränkt über die Arbeitskräfte verfügen zu können. Weil bekennende Gewerkschaftsmitglieder einfach entlassen werden, haben die Arbeiter Angst, ihren Job zu verlieren. Also entscheiden sie sich, aus der Gewerkschaft auszutreten, ohne zu wissen, dass sie dabei auch Rechte verlieren.«

Im November, als die Ratenzahlung ausblieb, nahmen die Arbeiter ihre Proteste mit neuer Entschlossenheit wieder auf, unterstützt unter anderem vom Gewerkschaftsverband der Textilarbeiter, dem Garment Workers Trade Union Centre (GWTUC). Mit ihrer Beharrlichkeit zwangen sie den Eigentümer erneut zu Gesprächen. Dieses Mal nahm die Arbeitsministerin notgedrungen persönlich an den Treffen teil, weil sie befürchtete, ohne Ergebnis werde sich der Protest vermehrt gegen sie richten. Sie schlug vor, den Auszahlungsbetrag auf insgesamt 1,5 Millionen Taka (etwa 16 000 Euro) zu erhöhen. Nach Berechnungen des GWTUC beliefen sich die geschuldeten Löhne zwar auf mehr als das Doppelte, aber angesichts der langwierigen Auseinandersetzungen einigten sich die beteiligten Parteien am 22. Dezember 2020 auf diesen Vorschlag. Der war vor allem für die früheren Festangestellten ein guter Deal. Für diejenigen, die nach Akkord, also pro hergestelltem Kleidungsstück, bezahlt wurden, will der GWTUC eine Nachbesserung und plant, vor Gericht zu gehen. Führungskräfte könnten ganz leer ausgehen: Sie bekommen oft gar nichts, weil die Firmen ihre höheren Gehälter nicht zahlen wollen. So hat auch in diesem Fall Abteilungsleiter Kuddus nach einem Jahr nur einen kleinen Teil seines Lohns erhalten.

Halim wertet das Verhandlungsergebnis überwiegend positiv: »Ich habe am Ende 18 000 Taka (176 Euro) bekommen, nachdem ich monatelang protestiert hatte. Das gibt mir Hoffnung, auch unsere anderen Forderungen durchsetzen zu können.« Zugestanden hätten ihm eigentlich 70 000 Taka (683 Euro). Der Gewerkschafter Abdul Salam betont: »Der Protest der Arbeiter von Dragon Sweater und sein Erfolg sind ein Zeichen dafür, dass alle Gewerkschaften gemeinsam mit den Arbeitern zusammenarbeiten sollten. Nur dann werden wir in der Lage sein, eine bessere Zukunft für sie zu schaffen.«

Internationale Solidarität

Tatsächlich war es in der langen Geschichte der Arbeitskämpfe der Textilarbeiter in Bangladesch eine Besonderheit, dass sich Gewerkschaften in anderen Ländern solidarisierten und Proteste organisierten, beispielsweise in Spanien, Nordirland und in zahlreichen deutschen Städten. Vor allem die anarchosyndikalistische FAU machte vor Filialen von Lidl und New Yorker auf die Situation der Entlassenen in Bangladesch aufmerksam. Ihre Mitglieder versteckten außerdem Informationszettel zwischen den Kleidungsstücken in den entsprechenden Geschäften. Die internationale Solidarität trug schließlich zu dem Erfolg der Dragon-Sweater-Arbeiter bei.

Beinahe wäre es allerdings nach hinten losgegangen: Medienberichten zufolge versuchte der Geschäftsführer Mostafa Golam Quddus, die Unterstützung aus dem Ausland zu nutzen, um die Forderungen der Arbeiter zurückzuweisen. Er behauptete, dass Plakate an Geschäften in Europa angebracht wurden, die Kunden dazu aufforderten, keine Produkte von Dragon zu kaufen. Das wertete er als Beschädigung des Ansehens seines Unternehmens. Doch sein Bemühen blieb letztlich vergebens.

Bis heute produzieren viele Fabriken in Dhaka nur sehr eingeschränkt, weil Aufträge ausbleiben. Einige Fabriken wurden ganz stillgelegt oder die Produktion in andere Bezirke des Landes verlegt, beispielsweise in die nordwestlich von Dhaka gelegene Stadt Sabhar.

Knapp zwei Monate nach der Einigung bei Dragon Sweaters machen einige der ehemaligen Mitarbeiter einen niedergeschlagenen Eindruck. Sie erzählen, dass 80 Prozent der entlassenen Arbeiter nun als Tagelöhner arbeiten. Nur wenige konnten wieder Arbeitsplätze in der Textilindustrie finden.

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