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Getrübte Stimmung im Jubiläumsjahr
Zum 100. Geburtstag von Willi Sitte sind eine ihm gewidmete Stiftung und Galerie in Merseburg in Schwierigkeiten geraten
Das Atelier ist leer geräumt. Im ersten Stock der »Willi-Sitte-Galerie« in Merseburg konnten Besucher seit Februar 2016 einen Eindruck davon gewinnen, wie der wenige Monate später verstorbene große DDR-Künstler gearbeitet hat. Damals hatte Sitte den Pinsel schon einige Zeit aus der Hand gelegt; seine Hallenser Werkstatt zog in die Galerie um und wurde dort akribisch nachgebaut: die Staffelei; ein Tisch mit Farben, Pinseln und Lappen; Regale voller Bildbände und Fachbücher; eine beigefarbene Sitzlandschaft und sogar der von Farbklecksen übersäte Linoleumboden.
Fünf Jahre später zeugen davon nur noch ein paar Bahnen blassblaues Packpapier, die verhindern sollten, dass das Linoleum auf dem Parkett des Galeriegebäudes festklebte. Die Einrichtungsgegenstände aber sind ausgeräumt. »Sie sind wieder in Halle«, sagt Michael Finger, der Vorsitzende des Fördervereins der Galerie. So wie Couch, Regale und Staffelei erging es auch vielen Bildern, Grafiken und Drucken, deren Hüter das Haus in Merseburg eine Zeit lang war. Die Folge: Viele Wände sind leer. Eine aktuelle Ausstellung immerhin gibt es; sie zeigt frühe Werke Sittes, deren Stil eher an Pablo Picasso und Fernand Leger erinnert als an den Sitte des »sozialistischen Realismus«; an die legendären Porträts von Werktätigen sowie Bilder voller »sinnlicher Fleischlichkeit«, wie eine überregionale Zeitung dieser Tage formulierte.
Über Sitte wird gerade viel geschrieben. An diesem Sonntag wäre der Maler 100 Jahre alt geworden. Am 28. Februar 1921 wurde er in der damaligen Tschechoslowakei als Sohn eines Bauern und Kommunisten geboren. Die politische Haltung des Vaters sollte er ein Leben lang teilen. Sitte desertierte als junger Mann aus der Wehrmacht und schloss sich italienischen Partisanen an; aus dieser Zeit sind Bilder in altmeisterlichem Stil überliefert. Nach Ende des Krieges verschlug es ihn nach Halle. Seine damaligen, etwa an Picasso orientierten Werke gerieten in der jungen DDR unter das Verdikt des Formalismus. In späterer Zeit aber zählte er zu den populärsten Künstlern des Landes: Chef des Verbands Bildender Künstler, Mitglied im Zentralkomitee der SED - ein »Staatskünstler«, wie es nach Ende der DDR oft abfällig hieß.
Die Galerie in Merseburg hat ihren Ursprung in dieser geringschätzigen Haltung. 2001 sollte es zum 80. Geburtstag eine Retrospektive im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg geben, dem Sitte viele seiner Werke übertragen wollte. Dann kam es zu einem großen Streit über seine Rolle in der DDR. Die Ausstellung platzte; Sitte zog sich verbittert aus dem öffentlichen Kunstbetrieb zurück. Der Eklat gab jedoch der Idee Auftrieb, das Lebenswerk des Künstlers in einer Stiftung zu bewahren. Die »Willi-Sitte-Stiftung für realistische Kunst« wurde 2003 eingetragen und erhielt 245 Gemälde, 180 Drucke und über 1000 Handzeichnungen. 2006 eröffnete die Stiftung eine Galerie. Weil die Stadt Halle und das dortige Landesmuseum Moritzburg zu der Zeit nichts mit dem großen Sohn der Stadt zu tun haben wollten, wurde sie in Merseburg eingeweiht, dessen PDS-naher Rathauschef Reinhard Rumprecht sich sehr ins Zeug gelegt hatte. Ein historisches Gebäude gleich neben dem Dom wurde saniert und um einen eleganten Neubau ergänzt. Seither ist die Stadt nicht nur Pilgerstätte für Freunde mittelalterlicher deutscher Literatur, die wegen der »Merseburger Zaubersprüche« aus dem Jahr 750 kommen, sondern auch für Anhänger der realistischen Kunst. In 15 Jahren, rechnet Michael Finger vor, habe es weit über 80 Ausstellungen gegeben: »Darauf können wir stolz sein.«
Wie viele Ausstellungen noch folgen werden - und ob dabei auch Bilder des Namensgebers gezeigt werden können -, ist derzeit unklar. In der Galerie herrscht ausgerechnet im Jubiläumsjahr eher melancholische Abschiedsstimmung. Zwar hat sich der Förderverein aus einer tiefen Krise berappelt. In die geriet er, weil er sich 2018 bei einer Ausstellung zum Bischof Thitmar von Merseburg gemeinsam mit dem Domstift finanziell übernahm, sagt Finger. Folge war ein »radikaler Schnitt« inklusive Kündigung der Geschäftsführerin der Galerie. Das Haus ging in das Eigentum der Stadt über, die auch die Betriebskosten trägt. Die Galerie wird nun ehrenamtlich betrieben, was ein Kraftakt ist. Aber immerhin, sagt Finger: »Wir sind wieder ein ordentlicher, liquider Verein.«
Schlechter erging es der Stiftung. Sie befindet sich in Liquidation. »Da hat jetzt nur noch ein Abwicklungsverwalter das Sagen«, sagt Jürgen Weißbach. Er war zuletzt Vizechef des Kuratoriums und zuvor lange Jahre Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) in Sachsen-Anhalt. In der Funktion hielt der gebürtige Niedersachse einst eine Rede zum Gedenken an die Opfer des Faschismus auf dem Gertraudenfriedhof in Halle. Willi Sitte, der zu den Zuhörern gehörte, war verblüfft: Ein Gewerkschafter und Sozialdemokrat - und trotzdem so eine gute Rede! -, habe er laut einer von Weißbach gern erzählten Anekdote geurteilt. Beide wurden Freunde. Als der Gewerkschafter in Rente ging, sammelte er auf seiner Abschiedsfeier bei Kollegen von Metall- und Lehrer-, Chemie- und Baugewerkschaft Geld für die Stiftung. Auch ein paar andere Financiers fanden sich, darunter der russische Gaskonzern Gazprom. Der dort tätige frühere SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder kam 2006 zur Eröffnung der Galerie.
Für eine funktionierende Stiftung freilich hätte es mehr benötigt als 100 000 Euro Kapital, die zunehmend weniger Zinsen abwarfen. Schon der Galeriebetrieb war aufwendig und teuer; daneben hätte man sich auch um die wissenschaftliche Aufarbeitung der Werke Sittes und ihren Unterhalt kümmern müssen. »Es war nie genug Geld da«, sagt Weißbach - schon gar nicht, nachdem bei der deutschen Gazprom-Filiale die Manager mit DDR-Biografie durch russisches Personal ersetzt worden waren und sich der Konzern aus der Förderung zurückzog. Es blieben die Stadt und vor allem die regionale Sparkasse, dazu ein paar Firmen und private Unterstützer. »Großverdiener und Vermögende aus Westdeutschland«, wie es Weißbach formuliert, hätten das Thema indes nie für sich entdeckt. Zwar schmücken sich Sammler auch aus der alten Bundesrepublik inzwischen mit Gemälden von Sitte, für die es auf dem Kunstmarkt rege Nachfrage gebe. Gönner, die Geld in der Stiftung anlegen wollen, habe man indes nie gefunden: »Für die sind Sitte, die DDR und Merseburg viel zu weit weg.«
Weißbach klingt ein wenig ernüchtert, wenn er das sagt. Er räumt ein, seine einstigen Erwartungen auf breitere Unterstützung für die Stiftung seien vielleicht etwas »blauäugig« gewesen. Bereut er die Gründung? Auf keinen Fall, sagt der 83-Jährige. In den 15 Jahren ihrer Tätigkeit hätten Stiftung und Galerie »etwas verändert im Umgang mit Willi Sitte«, glaubt er. Besucher nicht zuletzt mit DDR-Biografie hätten unbekannte Seiten des Malers entdeckt: die frühen Bilder im Stil der Renaissance; die lange Suche nach einer eigenen Sprache; die thematische Vielfalt. In seinem jahrzehntelangen künstlerischen Schaffen habe Sitte einen »gewaltigen Wirbelsturm der Bilder« entfacht, sagte zum zehnjährigen Jubiläum der Galerie im Jahr 2016 der Malerkollege Valentin Magaro, ein Schweizer, der zu den deutsch-deutschen Feuilletondebatten ein nüchtern-entspanntes Verhältnis hat und Sitte nicht als »Staatskünstler« und malenden Politiker abtat, sondern als »politischen Maler« würdigte. Vielleicht, sagt Weißbach, habe sich diese Sichtweise in der Zeit seither gefestigt, auch dank der Merseburger Galerie: »Ich hoffe, dass man Sitte stärker als Kunstereignis wahrnimmt und dass man seine Bilder anschauen kann, ohne gleich auch darüber reden zu müssen, ob er vielleicht einen Volvo besaß.« Michael Finger glaubt, dass beides notwendig ist: die Beschäftigung mit Sittes Kunst wie mit seinem gesellschaftlichen Engagement und seiner politischen Rolle. Widersprüche und Zerrissenheit seien Bedingungen für sein Werk gewesen.
Ob die Auseinandersetzung mit dem Werk und dem Leben von Willi Sitte auch künftig in Merseburg stattfinden kann, ist offen. Mit der Auflösung der Stiftung fallen seine Werke an die Familie zurück. So sieht es ein Passus vor, den Weißbach in der Satzung verankern ließ, worüber er heute froh ist. Allerdings scheint dort die Enttäuschung über das Scheitern des Konstrukts bislang zu dominieren. Der Förderverein habe die Familie gebeten, auch in Zukunft regelmäßig Bilder von Sitte in der Merseburger Galerie zeigen zu können; man habe aber mit dem Anliegen bisher »keinen Zugang« gefunden, sagt Vereinschef Finger mit hörbarem Bedauern.
Vorerst wird es seine Galerie nicht brauchen, um den großen Maler zu seinem 100. Geburtstag gebührend zu feiern. Zwar plant auch die Willi-Sitte-Galerie eine große Ausstellung zum Jubiläum. Ab Juli sollen, wenn es die Corona-Lage zulässt, Werke von Sitte aus den 1960er-Jahren, vor allem aber Bilder von vielen seiner Meisterschüler und Kollegen gezeigt werden; insgesamt 75 Künstler - ein Kraftakt für das kleine Haus. Außerdem aber wird es weitere Retrospektiven geben, unter anderem in der Moritzburg in Halle, wo man inzwischen nicht mehr mit Sitte fremdelt. Für den Maler wäre das eine Art späte Genugtuung, glaubt Weißbach: »Er wünschte sich zu allererst nicht, dass seine Bilder in Metropolen wie New York ausgestellt werden, sondern in Halle.« Im Januar 2022 wollen die Häuser in Halle und Moritzburg eine gemeinsame Finissage ihrer Jubiläumsausstellungen veranstalten. Auch anderswo, ist Finger überzeugt, wird man Sitte in diesem Festjahr in großem Stil würdigen.
Irgendwann aber wird der »Hype« abgeebbt sein, sagt der Vereinschef - und Sitte womöglich wieder aus dem Blickfeld rücken. Auch dann aber werde es in Merseburg »ein Haus geben, das seinen Namen trägt und bereit ist, seine Bilder weiter regelmäßig zu zeigen«. An diesem Bekenntnis hielten Verein und Vorstand fest - auch wenn, wie der Vorsitzende hinzufügt, »es momentan nicht so günstig aussieht«.
Was aber passiert dann in der Willi-Sitte-Galerie? Der Verein werde künftig nur noch eine der beiden Etagen im Haus bespielen, sagt Finger; mehr übersteige die Kräfte. Dort sollen weiterhin regelmäßig Ausstellungen gezeigt werden, die sich der realistischen Kunst verpflichtet fühlen: »Das ist unser Anspruch«, sagt er. Der Verein bleibt damit einer Tradition treu, die er seit Bestehen des Hauses gepflegt hatte; schon bisher war die Mehrzahl der Ausstellungen nicht den Bildern des Namensgebers gewidmet. Aktuell sind in einer Wanderausstellung farbenfrohe Stickereien von Künstlerinnen aus Afghanistan zu sehen. Auch Fotografien und Karikaturen, Skulpturen und Collagen waren in dem Haus im Laufe der Jahre zu sehen - neben Willi Sittes Liebespaaren, dessen Arbeiterporträts oder seiner künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Massaker der Nazis in Lidice 1942.
Was in den anderen Räumen des Galeriegebäudes stattfindet, ist offen; das Rathaus hat die Bürger aufgerufen, Ideen zu äußern. Mancher habe dabei auch den Vorschlag geäußert, sich vom Namen Willi Sittes zu trennen. Wenn sich dafür freilich eine Mehrheit finde, »stehe ich nicht mehr zur Verfügung«, sagt Finger. Kleine Galerien mit belanglosen und »unpolitischen« Namen gebe es schon zu viele, fügt er hinzu. Generell, sagt er zum Abschied, sei er mit seiner und der Arbeit des Vereins im Reinen. »Man muss sich fragen, ob man alles getan hat, was möglich war«, sagt er: »Das haben wir.« Wenn das für einen dauerhaften Erhalt des Hauses nicht reiche, »dann ist das eben so. Da muss man Realist sein«. In einem Haus, das sich der realistischen Kunst verpflichtet fühlt, ist das wohl eine angemessene Haltung.
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