- Wirtschaft und Umwelt
- Gosplan
Die notwendige Anmaßung
Verwaltung als Geburtshilfe der Utopie: Vor 100 Jahren wurde Gosplan gegründet, das »Gehirn« der sowjetischen Planwirtschaft.
Reiner Zufall und Theo Retisch hätten Lenin wohl kaum zum Lachen gebracht. Einem DDR-Witz zufolge waren das die Namen der Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission. Dass ein Wirtschaftssystem, das seine Existenz der Utopie bewusster Aneignung irrationaler Verhältnisse verdankte, selbst ob seiner irrationalen Folgen zum Gespött der »befreiten« Massen werden könnte, gehört zu den großen Paradoxien des 20. Jahrhunderts. Für Friedrich August von Hayek, Übervater des Neoliberalismus und Erzfeind des sowjetischen Modells, war es das Lehrstück menschlicher Hybris. »Die verhängnisvolle Anmaßung« hieß die letzte seiner vielen Polemiken gegen die Planwirtschaft. Sie erschien Ende der 1980er Jahre, als das sowjetische Jahrhundertexperiment schon kurz vor dem Zusammenbruch stand.
Bei aller ideologischen Verblendung, die man dem »Ideologiekritiker« Hayek selbst vorwerfen muss, traf sein Vorwurf der »Anmaßung« durchaus ins Schwarze. Lenin & Co ging es tatsächlich um die Überwindung jener kapitalistischen »Oikodizee« (Joseph Vogl), die sich das Märchen von der »unsichtbaren Hand« des Marktes erzählt. Die bewusste politische Kontrolle der Wirtschaft durch die Gesamtheit ihrer Teilnehmer - also durch eine klassenlose Gesellschaft als Ganze - galt schon den westeuropäischen Sozialisten des 19. Jahrhunderts als Formel der Wahl. Auch in den Augen der Bolschewiki konnte das nur gleichbedeutend sein mit der demokratischen Bewältigung der »zweiten Natur«.
Doch dieser »Anmaßung« entsprach keineswegs ein von Beginn an zu Ende gedachtes Konzept. Die Planwirtschaft, wie sie seit Stalin in der UdSSR, später dann von Elbe bis Pazifik »real existierte«, war selbst das Produkt einer Ära der Gewalt und des Bürgerkriegs, widersprüchlicher Experimente und heftigster politischer Auseinandersetzungen. Das gilt auch für die zentrale Verwaltungsbehörde Gosplan, die am 22. Februar 1921 auf Befehl Lenins in Moskau gegründet wurde - just zu der Zeit, als sich die Führung mit der »Neuen Ökonomischen Politik« (NÖP) zur Wiedereinführung von Gütermärkten in der Landwirtschaft entschloss.
Von dem eigenen Erfolg überrascht, musste die Führung um Lenin ab Oktober 1917 zunächst unter den widrigsten Bedingungen improvisieren. Der russische Boden, die gesamte Großindustrie und sämtliche Banken wurden verstaatlicht, die ökonomischen Verpflichtungen im Ausland einseitig annulliert. Im Angesicht der konterrevolutionären Gefahr wurde die gesamte Bevölkerung mit teils roher Gewalt in die Pflicht genommen: Im »Kriegskommunismus« beschlagnahmte die Rote Armee Nahrungsmittel und Wertgegenstände im Stil von Räuberbanden. Die in Petersburg, Moskau und der Ostukraine konzentrierte Industrie brach fast völlig zusammen. An utopische Neugestaltung war zunächst nicht zu denken.
Das allerdings änderte sich mit Ende des Bürgerkriegs. Als der englische Schriftsteller H. G. Wells im September 1920 den Staatsgründer im streng bewachten Kreml besuchte, war er überrascht von Lenins Optimismus und Tatendrang. Während die Tscheka Jagd auf politische Gegner und illegale Händler machte und ein Großteil der Bevölkerung vor allem in der Ukraine nach wie vor Hunger litt, kontemplierte Lenin sein Herzensanliegen: die Elektrifizierung Russlands. Seiner Vorstellung nach würde die infrastrukturelle Vernetzung der armen und isolierten russischen Landbevölkerung diese überhaupt erst zu einer »Gesellschaft« im modernen Sinne formen. Unterstützt durch eine Bildungsoffensive vor allem mathematisch-technischer Art, so meinte Lenin, sollten die Bürger des neuen Staates sukzessive befähigt werden, die Verwaltung ihrer Angelegenheiten in die eigene Hand zu nehmen und so die neuen sowjetischen Institutionen mit Leben füllen.
Lenins letztlich technokratischer Vorstellung von Ökonomie zufolge würde »die gesamte Gesellschaft« schließlich »ein Büro und eine Fabrik mit gleicher Arbeit und gleichem Lohn sein«. Durch optimierte zentralistische Organisation, so seine berühmte Aussage, würden schließlich die Beherrschung der vier Grundrechenarten und Grundkenntnisse in der Buchführung ausreichen für das »Management« des arbeitsteiligen Hightech-Kommunismus. Wenn dieser Punkt erreicht sei, so konnte man in »Staat und Revolution« nachlesen, werde auch der Staat als »Geburtshelfer« der neuen Gesellschaft seine Funktion verlieren und schließlich »absterben«.
Zur Elektrifizierung als erstem Handlungsakt der Geburtshilfe gründete Lenin im Frühjahr 1920 die Behörde GOELRO. Dass es sich hier um den Ursprung der »Zentralverwaltungswirtschaft« handelte», die 50 Jahre später für Milliarden von Menschen auf dem ganzen Globus alltägliche Realität war, konnte zu diesem Zeitpunkt niemand vorhersehen. Unter der Leitung von Gleb Krschischanowski, einem Jugendfreund Lenins aus Petersburger Zeiten, erstellten ein paar Duzend Ingenieure die technischen Pläne für 30 nationale Energiekraftwerke und koordinierten die Umsetzung mit den unzähligen Betrieben und bolschewistischen Orts- und Provinzkomitees. Die eigentümliche Parallelität von archaischen Mitteln und utopischem «Geist», die in diesem Gremium vorherrschte, hat einer der Ingenieure, der Schriftsteller Andrej Platonow, in den Fragmenten seines nie vollendeten großen Elektrifizierungsromans festgehalten, der die Geschichte der GOELRO selbst in «elektrifiktionaler» Poetik erzählen sollte.
Durch die vielversprechenden Ergebnisse von GOELRO fühlte sich die Sowjetführung motiviert, die ersten konkreten Schritte hin zum Aufbau der Planwirtschaft zu wagen. Die Gosplan, gegründet als Kommission im Rat für Arbeit und Verteidigung, wurde mit der Gesamtplanung der sowjetischen Industrie beauftragt. Gemeinsam mit nur 40 Ökonomen und Ingenieuren versuchte Krschischanowski zunächst, einen statistischen Überblick der Volkswirtschaft zu entwerfen - seinen späteren Aussagen zufolge selbst ein quasi «fiktives» Unterfangen. Dem Umfang dieser Aufgabe gemäß wuchs die Kommission in den Folgejahren rapide, gründete Zweigstellen in den Regionen und schickte Verbindungsleute in die Betriebe. Bald beschäftigte sie Zehntausende Mitarbeiter. Verbunden durch das gemeinsame Interesse an der Ressource «Information», kooperierte Gosplan von Beginn an eng mit der Geheimpolizei Felix Dzierzynskis. Mit ihrer Expansion rückte die Behörde allerdings selbst auch bald in deren Visier.
Für die angestrebte Gesamtplanung fehlten zunächst die Voraussetzungen. Gosplan verlegte sich auf Teilpläne für einzelne Industrien. Erst im Laufe der 1920er Jahre ergänzten sich die Puzzleteile Stück für Stück. Vor allem jedoch entstanden erst mit der Expansion der Behörde die politischen Voraussetzungen einer volkswirtschaftlichen Gesamtplanung. Nachdem er die Befürworter der NÖP-Strukturen um Nikolai Bucharin marginalisiert hatte, forcierte Stalin die Enteignung sämtlicher unabhängiger Akteure in der sowjetischen Ökonomie. 1928 entwarf Gosplan den ersten Fünfjahresplan, dessen zentrales Element die Enteignung der Bauernschaft zugunsten staatlicher Großbetriebe darstellte.
Durch die darauf folgende «ursprüngliche Akkumulation» setzte Stalins Regierung Lenins Utopie, die gesamte Gesellschaft in «ein Büro und eine Fabrik» zu verwandeln, in die Tat um. Gosplan, das Büro, wurde zum «Gehirn» einer gigantischen Industrielandschaft - und damit selbst zu einer Mammutbehörde, die wie ein menschlicher Riesencomputer unablässig Informationen synthetisierte. Von «einfacher Buchführung» konnte keine Rede sein: Die mathematischen Aufgaben überschritten teils das Menschenmögliche. Ihre reale Rückseite war die eine große gesellschaftliche Fabrik, deren erbarmungsloses Disziplinarregime jede Regung nichtkonformer Lebensführung mit aller Gewalt erstickte.
So sehr die Geschwindigkeit der sowjetischen Industrialisierung seit den 1930er Jahren noch heute beeindruckt, so unverkennbar zeigten sich schon früh die charakteristischen Probleme, die einer fast lückenlosen Planwirtschaft wohl unweigerlich inhärent sind. Ohne zumindest rudimentär freie Märkte fehlten Informationen über Veränderungen der Nachfrage, aber auch der Anreiz zu Innovationen. Das zeigt sich insbesondere auf den Konsumgütermärkten. Die Versuche, die Planökonomie erneut um «marktwirtschaftliche» Elemente zu ergänzen, scheiterten jedoch allesamt: Weder die Ansätze des langjährigen Gosplan-Chefs Wosnesenski unter Stalin, noch Chruschtschows Initiativen der 1950er Jahre konnten sich gegen die Kräfte der Beharrung durchsetzen. Als Respekt vor und Loyalität zum Staat seit den 1960er Jahren nach und nach implodierten, begannen die inoffiziellen Parallelmärkte zu grassieren. Seit den 1970er Jahren übernahmen korrupte Netzwerke der Betriebsleiter Schritt für Schritt die ökonomische Macht. Lenins Staat starb tatsächlich ab, doch anders als gewollt. Daran konnten auch Versuche der Digitalisierung von Gos-plan nichts ändern.
So sich die Planwirtschaft zurückentwickelte in eine «Fiktion», deren Zahlenökonomie immer weniger der Wirklichkeit entsprach, so verkam auch ihr «Gehirn» zunehmend zum Gespött jener Massen, als deren Instrument zur kollektiven Befreiung von ökonomischer Unmündigkeit Gosplan einst imaginiert worden war. Der letzte Versuch einer Reform endete schließlich 1991 im finalen Desaster dieser Utopie.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!