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»Ich brauche keine 300 Schritte bis zur Arbeit«

Lutz Thiele wohnt im Brandenburger Wernsdorf und ist dort Schleusenwärter. Mit körperlicher Anstrengung hat das heute nichts mehr zu tun

  • Anita Wünschmann
  • Lesedauer: 6 Min.

Noch ehe ich mich orientiert habe, wo der Eingang ist, hat mich Lutz Thiele, 65 Jahre, entdeckt. Er kommt mir entgegen. Über dem Gosener Kanal liegt ein milchiges Dezemberlicht. Hellgrau rundum. Am Ende unseres Treffens wird ein Kieslieferant aus Hartmannsdorf durchgeschleust. Die Fracht geht nach Berlin. Man kennt sich.

Wann begann heute Ihr Arbeitstag?

Um sieben Uhr fünfundvierzig. Eine gute Zeit.

Sie arbeiten in einem tollen Büro! Es sieht ein bisschen aus wie bei einem Börsenmakler, nur nicht so hektisch.

Was man hier sieht, ist das Ergebnis eines Umbaus vor vierzehn Jahren. Da wurde die Schleusenkammer Nord um das Doppelte verlängert und das Büro erneuert. Alles läuft jetzt elektronisch. Ich gehe zum Schleusen nicht mehr raus.

Sie gehen gar nicht ins Gelände?

Normalerweise nicht. Wir sitzen hier und schleusen vom Schreibtisch aus über neun Monitore.

Was zeigen diese Bildschirme an?

Zwei zeigen den Unterhafen. Auf dem dritten sieht man die Brücke, über die wir hierher gelangt sind. Über den vierten beobachte ich den Stoßschutz, dass kein Kahn in die Tore rammt. Dort oberhalb hab ich das Tor im Blick und kann es elektronisch steuern. Das Südbecken sehe ich über die Bildschirme hier unten. Es dient der Wasserabführung in Richtung Berlin.

Ist es eine besondere Anstrengung, alle neun Perspektiven im Blick zu behalten oder überhaupt wachsam zu bleiben, wenn längere Phasen nichts passiert?

Das kriegt man schon hin. Die Berufsschifffahrt meldet sich ja an. Nur auf die Sportboote muss ich speziell aufpassen. Ich kann vor allem im Sommer nicht groß weg. Einmal kurz die Beine vertreten, das muss aber sein.

Gibt es für die Sportboote ein Extrabecken?

Nein. Alle gehen durch das riesige Nordbecken. Im Übrigen ist ja ein Sportbootsführerschein Pflicht und wir machen hier auf der Schleuse ein bis zwei Tage Praxistraining.

Und für die Schubkähne, wird es da eng? Müssen Sie mit achtgeben?

Die Kammereinfahrt ist 9,40 Meter breit und bei 8,20 Metern Schiffsbreite wird es schon eng für die großen Schubkähne. Aber die Kapitäne müssen das allein hinkriegen.

Möchten Sie sich manchmal die Augen zuhalten?

In der Berufsschifffahrt klappt zu neunundneunzig Prozent alles.

Wie lange sitzen Sie jeden Tag hier?

Zur Zeit sind es zehn Stunden. Wegen Corona arbeitet jetzt nur noch einer pro Schicht, sonst sind wir zu zweit. In DDR-Zeiten waren wir 15, mussten aber alle Wartungsarbeiten und die Grünpflege mitleisten. Das ist komplett ausgelagert.

Als was wurden Sie ausgebildet?

Von der Ausbildung her bin ich Facharbeiter für Wasserbautechnik. Das habe ich in Kleinmachnow gelernt und meine erste Arbeit war auf einem Schwimmbagger. In und um Berlin herum war ich im Einsatz, um Häfen auszubaggern oder Fahrrinnen. Im Winter arbeitete ich rund um die Uhr auf einem Eisbrecher. Ende der Achtziger bin ich hierher gezogen.

Sie wohnen auch hier?

Da drüben (zeigt aus dem Fenster)! Ich brauche keine 300 Schritte bis zur Arbeit. Mit meiner Verbeamtung 1990 wurde ich in dem Haus, das damals noch der BSA gehörte, einquartiert. Inzwischen konnte ich es kaufen.

Ist es die schönste Arbeitsstelle die man haben kann?

Ich komme klar.

Das Wetter spielt keine Rolle mehr?

Seit 14 Jahren spielt es keine Rolle mehr. Davor waren wir viel draußen. Das Schleusenwärterhaus war unspektakulär, ein Tisch, ein paar Stühle, ein Umkleideraum.

Wie haben Sie denn damals den Schleusenalltag erlebt und gehandhabt?

Man ist gekommen, hat alles aufgeschlossen, dann hat man abgewartet, was auf einen zukommt. Die Betriebsstände waren im Freien. Die Tore wurden elektrisch bedient. Das war schon alles ziemlich gut gewesen, als ich 1988 hierherkam. Wir haben auch eine umfassendere Ausbildung gehabt und lernten Maurern, Tischlern und Wasserbau. Wir haben Strandhafer an der Ostsee gepflanzt, in Tangermünde den Hafen gepflastert oder hier den Gosener Kanal mit ausgebaggert. Heute lernen die Lehrlinge zu wenig.

Hat sich der Schiffsverkehr seitdem auch verändert?

Bis 1990 hatte das Eisenhüttenkombinat alles per Schiff geliefert. Da ist ja sehr viel weggebrochen an Produktion. Den verbleibenden Transport hat sich in den 90ern die Reichsbahn unter den Nagel gerissen. Es geht bis heute alles über die Schiene.

Was wird hier noch transportiert?

Hüttensand, Getreide, Kies, Holz. Früher kam auch jede Menge Kohle aus Polen, aber die wird in Deutschland kaum noch abgenommen, weil sie zu schwefelhaltig ist. Inzwischen ist ja auch alles auf Gas umgestellt. Auch Kies für Berlin kam in sehr großen Mengen aus Polen. Die Schifffahrt Richtung Osten ist in den letzten Jahren allerdings schwierig geworden, weil die Oder meistens Niedrigwasser hat.

Wo kommt das Getreide her?

Aus Fürstenwalde. Es gibt dort eine große Siloanlage, und die Fracht geht hauptsächlich nach Westdeutschland. Komisch ist, dass Getreide hoch zu und runter zu geliefert wird. Das sind Verkaufsgeschichten. Die versteht man nicht. Aber generell ist es interessant, was so transportiert wird.

Kriegt man das Wasser über, wenn man ein ganzes Arbeitsleben lang immer den Blick darauf hat, oder entsteht eine Sehnsucht, sobald man es missen muss?

Sehnsucht nein! Es ist ein Arbeitsplatz für mich. Als Kontrast liebe ich die Berge, und ich fahre nur ans Meer in den Urlaub, weil meine Frau es liebt.

Sind Sie im Berliner Raum aufgewachsen?

Ja.

Hier kann das Wasser einen schon prägen, rundum Seen, Kanäle, die Dahme, die Spree ...

So ist es! Mein Opa war Schiffer. Mein Vater war beim Wasserbau und ich war dann beim Wasserstraßenhauptamt.

Interessiert Sie mehr der technische Aspekt oder die Natur an Ihrer Tätigkeit?

Die Natur. Das ist pure Natur hier. Wenn ich im Sommer um 5.30 Uhr beginne, ist hier eine Stille! Ich kann den Fischreihern zugucken.

Aber Sie haben die ganze Zeit Musik an.

Es ist sonst zu ruhig. Nur Stille, das geht nicht. Das hält man nicht aus.

Fahren Sie manchmal in die Stadt?

Nicht so oft, aber zum Beispiel gern zu Konzerten oder in Musicaltheater. Ich habe mir »Blue Man Group« am Potsdamer Platz angesehen oder bin in die Waldbühne zu Mario Barth gefahren. Das Queen-Stück »We Will Rock You« habe ich gleich dreimal gesehen. In Köln war es allerdings besser als im Admiralspalast. Sonst brauche ich die Stadt nicht.

Es gibt unzählige Schleusen rund um Berlin. Hätten Sie noch andere Favoriten?

Nein. Ich habe in Spandau gearbeitet. Die Schleuse ist schön, aber es gibt dort viel Verkehr. Mühlendamm ist regelrecht Remmidemmi, Stress pur! Die »Weiße Flotte«, so hieß ja die Ausflugsschifffahrt bis zur Wiedervereinigung, jetzt gehört ja alles zur Stern- und Kreisschifffahrt GmbH, kreist dort in einem engen Takt. In Woltersdorf sind mir zu viele Sportboote. Das sind mitunter schlimme Leute - ungeduldig und anmaßend. Wir haben hier 4000 Sportboote pro Jahr. Das ist übersichtlich. Woltersdorf hat 20 000.

In fünf Jahren gibt es wieder ein Schleusenjubiläum, das 130. Bestehen...

Ja, aber ohne mich. Ich gehe demnächst in Rente.

Interview: Anita Wünschmann

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