Ändere die Welt, sie braucht es

Die Akademie der Künste in Berlin zeigt und diskutiert fünf Tage lang engagierte Kunst von Milo Rau

  • Lara Wenzel
  • Lesedauer: 5 Min.

Seit nahezu 20 Jahren geht Milo Rau in seinen Inszenierungen, Filmen und Publikationen der Frage nach, wie Kunst Ausbeutung und Gewalt nicht nur zeigen kann, sondern wie sie sich in aktiven Widerstand übersetzen lässt. Bis die Pandemie die Probenarbeiten im März vergangenen Jahres unterbrach, entwickelte er eine Inszenierung von »Antigone« in Brasilien. Gemeinsam mit der Landlosenbewegung, die brachliegendes Ackerland auf legaler Grundlage besetzt und so enteignet, und indigenen Aktivist*innen sollte der antike Konflikt, Antigone gegen den Tyrann Kreon, mit dem andauernden Kampf gegen die Regierung Jair Bolsonaros verbunden werden.

Um das Wissen und die Praktiken des Widerstands zu teilen, die zum Beispiel in der konkreten Bewegung gegen den Ökozid und der Entrechtung der Indigenen in Brasilien liegt, gründete Rau mit dem von ihm geleiteten Theater im belgischen Gent und dem International Institute of Political Murder die Debattenreihe »School of Resistance«. Seit Mai 2020 diskutierten Aktivist*innen, Theoretiker*innen und Künstler*innen über einen notwendigen globalen Wandel und wie dieser zu erreichen sei. Ein fünftägiger Diskussions- und Filmmarathon an der Akademie der Künste Berlin widmete sich sechs Arbeiten des Regisseurs und der Frage, wie diese künstlerischen Interventionen über ihren Premierentermin hinaus weiterwirken. Vom 24. bis 28. Februar konnte die Debatte um die politischen Möglichkeiten der Kunst im Livestream verfolgt werden.

Wiederkehrende Strategien in Raus Arbeit sind Inszenierungen des Rechts und die Wiederholung von (medialer) Gewalt auf der Bühne. Während er in »Die letzten Tage der Ceausescus« den Prozess und die Hinrichtung des rumänischen Diktatorenpaares in einem auf kleinste Gesten genauen Reeanctment der Fernsehbilder wiederholte, erschuf er in anderen Inszenierungen fiktive Gerichtsverhandlungen im Theater. »Die Moskauer Prozesse«, in denen er die Strafverfahren gegen Pussy Riot und Beteiligte der Ausstellungen »Achtung! Religion!« und »Vorsichtig Kunst« der russischen Verfassung gemäß inszenierte, oder »Das Kongo Tribunal«, in dem an drei exemplarischen Fällen der Kongokrieg aufgeschlüsselt wird, bilden symbolische Institutionen. Sie sind nicht mehr als künstlerische Behauptungen, sie haben zwar keine juristischen Folgen, bringen aber die Betroffenen zusammen und zur Verhandlung. Räume des radikalen Widerspruchs entstehen, die sich im Falle des Kongo-Tribunals institutionalisieren, wie die Anwältin und Menschenrechtsaktivistin Celine Tshizena berichtete.

Demokratische Streiträume stehen, wie Rau ausführt, gegen die neoliberale Idee vom Theater als sicherem Ort, in dem eine trügerische Übereinkunft gepflegt wird. Dabei könnte der »agonistische« Raum, wie die Philosophin Chantal Mouffe im von Rau herausgegebenen Band »Why Theatre?« argumentiert, den hegemonialen Konsens untergraben und neue Formen der Identifikation schaffen. Dafür bedarf es einer künstlerischen Praxis, die Institutionen nicht ablehnt, sondern versucht, in ihnen Dissens zu schüren. Dementsprechend wäre Theater erst politisch zu nennen, wenn es sich uneins ist.

Um den Konflikt in der Zusammenkunft von Aktivismus und Kunst zu zeigen, macht Rau den Produktionsprozess in seinen Arbeiten sichtbar. »Ich mache keinen Film! Ich organisiere den politischen Kampf!«, interveniert der italienische Gewerkschaftler Gianni Fabris während der Dreharbeiten von »Das neue Evangelium«, weil Raus Inszenierungsstrategien mit denen des Bewegungsorganisators kollidieren. Diese Widersprüche beizubehalten, ist eine der Stärken seines neuesten Films, in dem realpolitisches und künstlerisches Handeln bislang am stärksten verschränkt werden. In der Aneignung des neuen Evangeliums durch die Ausgestoßenen Europas wird die Geschichte Jesus mit dem Aktivisten Yvan Sagnet, der in Süditalien für die Rechte Geflüchteter kämpft, überblendet.

Nahe Matera, wo bereits Pier Paolo Pasolini und Mel Gibson die Passion Christi verfilmten, leben über das Mittelmeer Geflohene in Ghettos und pflücken als moderne Sklaven Tomaten, die für wenig Geld in der Supermarktauslage landen. All das geschieht wenige Kilometer von der malerischen Altstadt der Kulturhauptstadt Europas 2019 entfernt. »Das neue Evangelium« ist zugleich Making-Of eines Jesus-Epos, Dokumentation der »Revolte der Würde« durch die Feldarbeiter und Aufführung der Kreuzigung Christi, in der Sagnet zum neuen Propheten wird. Theater und Protest vermischen sich vor den Augen der Bewohner*innen Materas, die als Publikum Kundgebungen und Passion fleißig mit dem Handy filmen. Ihre Anwesenheit im Film wirft die Zuschauer*innen in zweiter Instanz auf ihre eigene Schausituation zurück.

Besonders deutlich wird die zweischneidige Position der Betrachter*innen in einer Folterszene, die sich im Film verschiedenartig wiederholt. Zuerst improvisiert ein italienischer Katholik während des Vorsprechens in einer Kirche die Auspeitschung Jesu. Er verfällt im Modus des Als-ob in hemmungslose rassistische Beschimpfungen und prügelt mit der Peitsche auf einen Stuhl (der Jesus symbolisiert) ein. Der Vorgang wird später im Film in historischen Kostümen vor einem kleinen Publikum wiederholt, das sich von der Gewalt schockiert zeigt. Ihre Blicke stehen für das naive Mitleid der bürgerlichen Zuschauer*innen, die immer wieder aufs Neue überrascht sind von der Gewalt in der Welt und sie so von sich fernhält.

Im Gespräch über globale Kunst bemerkte Rau dazu, dass viele Theaterinstitutionen diese Ökonomie des Mitleids fördern. Paradoxerweise sei es gut, auf der Bühne Opfer zu zeigen, anstatt an der Veränderung ihrer Position zu arbeiten, wie er es in seinen Projekten anstrebt. Fraglich ist, wie lang die Erschütterung des Publikums anhält, nachdem es diesen oder einen anderen Film des Regisseurs gesehen hat. Wie bringt man die Zuschauer*innen in zweiter Instanz, die nicht direkt am Projekt beteiligt sind, dazu, den Aktivismus nicht nur zu konsumieren, sondern darin zu partizipieren, fragte auch die Philosophin Juliane Rebentisch in einer der Diskussionsrunden. Sagnet hofft, dass nach dem Film die individuelle Konsumentscheidung überdacht und zu den Tomaten mit dem fairen von ihm gegründeten No-Cap-Label gegriffen wird, auch wenn dies keinen strukturellen Wandel ersetze.

Ob Kunst nun selbst als Aktivismus, Kritik oder Ersatzbefriedigung wirkt, konnte in den fünf Tagen nicht aufgelöst werden - und sollte es im Sinne des Dissenses auch nicht. Die Diskussion darum wird am 23. März in der »School of Resistance« wiederaufgenommen, ebenso geht die künstlerische Forschung Raus weiter. Die unter dem Titel »Ästhetik des Widerstands« geführte Diskussion zwischen dem Philosoph Geoffroy des Lagasnerie, dem Autor Édouard Louis und Rau bereitet eine Inszenierung vor, deren Probearbeiten in wenigen Tagen beginnen.

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