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Bedingungsloses Geben
Eine Initiative aus Leipzig zahlt Betroffenen der Coronakrise Hilfen aus – ohne Prüfung der Bedürftigkeit. Kann das funktionieren?
Haben Sie schon einmal Geld verschenkt? Eine niedrige oder hohe Summe an einen Fremden ausgegeben? Was hat Sie bewogen, das im konkreten Fall zu tun? Und haben Sie anders herum schon einmal Geld angenommen, vielleicht in einer Notlage? Wie haben Sie sich dabei gefühlt?
Für Tina Bähr stellte sich Anfang 2020 die Frage, an wen sie sich wenden kann, wenn kein Geld mehr da ist. Vorher arbeitete sie als Gastronomin auf historischen Märkten. Mit der Pandemie durfte kein Mittelalter mehr gespielt werden. Bähr stand plötzlich ohne Aufträge da. In existenzielle Nöte gerät sie deshalb aber nicht. Sie hat ein Umfeld, das sie auffängt.
Doch ein Gedanke lässt sie seitdem nicht mehr los: Was ist mit denen, die niemanden haben, der bereit ist, Geld zu leihen? Die keine Eltern oder Verwandten haben, die aushelfen können?
Die Coronakrise hat die Arbeitslosigkeit in Deutschland erstmals seit 2013 steigen lassen. Im vergangenen Jahr waren im Schnitt knapp 2,7 Millionen Menschen arbeitslos - 480 000 mehr als im Vorjahr. Es gibt verschiedene Programme der Bundesregierung und der Länder, um die sozialen Folgen der Krise abzufedern. Doch was ist, wenn der Staat nicht hilft?
Marie Anthem aus München ist Studentin wegen Mangel an Alternativen und Schauspielerin aus Leidenschaft. Sie arbeitete einst für ein Krimi-Dinner - ein Abendessen, bei dem das Publikum Fälle lösen musste, die sich vor ihren Augen abspielten. In Szene gesetzt von Marie Anthem. Dann wurde sie gekündigt. Auf das Geld ist sie angewiesen, um ihr Studium fortzuführen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat Maßnahmen auf den Weg gebracht, um Studierende zu unterstützen.
Pandemiepleiten
Zweimal hat Anthem die Nothilfe für Studierende erhalten. Weil sie weniger als 100 Euro auf dem Konto hatte, wurde ihr jeweils der höchstmögliche Betrag ausgezahlt: 500 Euro. Beim dritten Mal wurde ihr Antrag abgelehnt. Bis heute bekam sie dafür keine Begründung vom Studentenwerk. Den Januar hat sie mit so wenig Geld verbracht, wie noch nie in ihrem Leben.
Für Menschen wie Marie hat Tina Bähr im März 2020 die Initiative »directsupport Leipzig« mitgegründet. Gemeinsam mit anderen Leipzigern verteilt sie Geld. Und zwar unkompliziert, schnell und vor allem: ohne eine Bedarfsprüfung, wie sie etwa Jobcenter oder andere Behörden durchführen. Kann das funktionieren?
Das Geld, welches die Initiative verteilt, kommt aus privaten Spenden. Über 14 000 Euro wurden so bereits umverteilt, in 51 Bietrunden. Die finden über einen Chat statt. Die aufgerufene, betroffene Person nennt einen Betrag, den sie braucht. Anonyme, ihr unbekannte Personen geben dann so lange Spendengebote ab, bis die Wunschsumme erreicht oder eine Woche verstrichen ist.
Die Menschen, die sich bei »directsupport« melden, sind zu einem Großteil Personen, die keinen Zugang zu staatlichen Hilfen finden. Am Anfang haben sich viele Studierende aus dem Ausland gemeldet, die in Deutschland ohne Zuverdienst ihr Studium nicht mehr zahlen konnten. Auch einige Menschen, die Hartz 4 beziehen, wenden sich an die Initiative. Sie wurden finanziell durch die Krise zusätzlich belastet, viele von ihnen hatten auch vorher kaum genug Geld, etwa für Medikamente für die Kinder. Des Weiteren melden sich prekär beschäftigte Menschen und Menschen ohne Ausweispapiere. Besonders hart trifft die Krise auch Minijobber - im Gegensatz zu sozialversicherungspflichtig Beschäftigten haben sie keinen Anspruch auf Kurzarbeiter- oder Arbeitslosengeld. Die meisten geringfügig Beschäftigten sind keineswegs nur Studierende und Rentner, die sich etwas hinzuverdienen wollen, der Minijob ist nicht Neben-, sondern Hauptverdienst. 2019 waren laut Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung fast fünf Millionen Menschen finanziell von einem Minijob abhängig.
Die Coronakrise und ihre Folgen werden die Situation weiter verschärfen. Hunderttausende Jobs werden vernichtet, das ifo Institut für Wirtschaftsforschung rechnet mit bis zu 1,8 Millionen zusätzlichen Arbeitslosen. Laut einer Umfrage der Münchner Forschungseinrichtung muss jeder fünfte Betrieb Beschäftigte entlassen.
Das Geld der anderen
Ein guter Indikator dafür, wie hart der Absturz wirklich werden könnte und wie viele Menschen das staatliche Sicherheitsnetz nicht auffängt, ist derzeit die Mailbox von »directsupport Leipzig«.
»Wir bekommen Anfragen von Menschen, die nicht wissen, wie sie den nächsten Monat für etwas zu essen und ein Dach über dem Kopf aufkommen sollen«, erzählt Vince Leon, der sich wie Tina Bähr bei »directsupport« engagiert. Oft würde sich durch die Aufnahme von Schulden die Armut der Menschen zementieren, erzählt Leon und meint: »Deshalb versuchen wir, im kleinen Rahmen Unterstützung zu organisieren.«
Wie für Zora Roth. Als die Pandemie die Welt aus der Ordnung warf, befand sie sich gerade in Thailand. Und auf einmal war es gar nicht mehr so einfach, zurück nach Deutschland zu gelangen. Statt 250 kostete der Rückflug 830 Euro. Das Geld kann Roth nicht aufbringen, doch sie will unbedingt nach Hause. Wegen der Pandemie und weil sie aufgrund einer Autoimmunerkrankung Medikamente braucht, an die sie nur in Europa gelangt. Sie wendet sich an die italienische Botschaft, dort kommt ihre Familie her. Die ist auch bereit ihr zu helfen und streckt das Geld für den Flug vor. Doch die Rückzahlung der Schulden bereitet ihr große Probleme. Woher das Geld nehmen? Im Internet stößt sie auf die Gruppe »directsupport«, wendet sich mit ihrem Hilfegesuch an die Leipziger. Dort gibt es dann eine Bietrunde für Roth. Schließlich überweisen verschiedene, ihr völlig fremde Personen Geld auf Roths Konto. »Auf einmal Zahlungseingänge, 60 Euro, 80 Euro, ich habe mich gefühlt wie im Schlaraffenland«, erzählt Roth, die von Sozialhilfe lebt und dauerhaft erwerbsgemindert ist. Ob sie Probleme hatte, das Geld anzunehmen? »Nicht wirklich«. Es käme ja von »solventen Leuten«. Aber unglaublich dankbar sei sie. Und sie überlegt nun, wie sie selber anderen Menschen einmal helfen könne. Eine Stiftung wolle sie gründen, wenn sie selbst einmal mehr Geld hätte.
Fremde Menschen, die etwas Geld übrig haben, spenden über einen Messengerdienst an andere, fremde Menschen. Gelingt hier im Kleinen, wovon manch linker Romantiker schon immer träumt, eine Umverteilung von Zaster und Privilegien? Und das ganz ohne Jobcenter-Mitarbeiter, die einem die Hosen ausziehen?
Das Prinzip beruht auf viel Vertrauen. Doch was ist, wenn dieses unterlaufen wird? »Schon nach kurzer Zeit bekamen wir auch zweifelhafte Nachrichten«, erzählt Tina Bähr, die die Finanzen bei »directsupport« im Blick hat. »Menschen, die nach Tausenden von Euros fragen, ohne gute Gründe dafür zu benennen«. Da beginnen dann aber die Probleme. Wer entscheidet, was gute Gründe sind und was nicht? Ist das nicht selber schon eine »Bedarfsprüfung«?
»Es kann und soll keine formalisierte Bedarfsprüfung durch uns geben. Sofern uns Anfragen aber komisch vorkommen, sehen wir es als unsere Verantwortung, Unwohlsein nachzugehen«, meinen die Verantwortlichen bei »directsupport«. Gleichzeitig sei es auch so: »Wenn 15 Menschen Geld beantragen und eine Person dabei ist, die es nicht tatsächlich braucht, ist das immer noch besser, als ein strenges Prüfsystem, dass die Hürden zu hoch setzt«, meint Bähr.
Darüber hinaus würde man bei allen Anfragen erst einmal auf andere Unterstützungsstellen verweisen. »Wir verweisen mit einer langen Liste an verschiedene Möglichkeiten«, erzählt Bähr. Man will zuerst staatliche Möglichkeiten ausschöpfen, bevor durch »directsupport« geholfen wird.
Eigentlich macht »directsupport« nicht mehr als das. Die Initiative schließt Lücken, wo der Staat versagt. Doch die Botschaft der kleinen Gruppe ist weitreichender: »Menschen können kooperativ und solidarisch sein. Gemeinsam konstruieren wir eine Beziehungsweise, welche über die bestehende Ordnung hinausweist«, heißt es bei »directsupport«. Deshalb will die Initiative weitermachen, sogar größer werden, auch nach der Pandemie.
Wenn eine solche Organisation sich für alle öffnet, dann kommt auch der Missbrauch, die fehlende Bedarfsprüfung öffnet Betrügern Tür und Tor, werden Skeptiker einwenden. Vielleicht ist das so. Vielleicht darf man aber auch einfach nicht allzu skeptisch mit der Menschheit sein, um bei so einem utopischen Umverteilungsprojekt mitzumachen.
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