Der Mensch und die Balance der Erde

Erle C. Ellis über das neue Zeitalter Anthropozän, das man auch »Kapitalozän« nennen könnte

  • Gerhard Klas
  • Lesedauer: 4 Min.

Der US-amerikanische Umweltwissenschaftler Erle Christopher Ellis forscht seit knapp zwei Jahrzehnten zu den Auswirkungen menschlichen Handelns auf das System Erde. Dazu hat er mehr als 100 wissenschaftliche Arbeiten verfasst und gehört zu den meistzitierten Wissenschaftlern auf seinem Gebiet. Mit »Anthropozän: Das Zeitalter des Menschen« hat er sein erstes populärwissenschaftliches Buch herausgegeben.

Je nach Profession variieren die zeitlichen Dimensionen des Denkens: Legislaturperioden und die nächsten Wahlen bestimmen das Handeln der meisten Politiker; der Horizont von Vorständen in Aktiengesellschaften reicht oft nur bis zur nächsten Jahreshauptversammlung. Auf der anderen Seite steht die Wissenschaft der Geografie, die die Geschichte der Erde in verschiedene Perioden, Epochen und Zeitalter auf einer geologischen Zeitskala einordnet. Eine Wissenschaft, deren Anfang bis in die griechische Antike 550 vor Christus zurückreicht und deren Forschung Dimensionen von Millionen Jahren umfasst. In der Wissenschaftsliteratur war die Zerstörung der Natur durch den Menschen erstmals im ausgehenden 19. Jahrhundert Thema.

Für Ellis und andere Erdsystemwissenschaftler besteht die Balance der Erde aus ausgleichenden Mechanismen, die menschliches Leben auf diesem Planeten überhaupt erst ermöglichen. Der moderne Mensch hat es geschafft, durch sein Handeln diese Regulationsmechanismen an ihre Kipppunkte zu führen - zum Beispiel die Eisschmelze an den Polen, verursacht durch zu viele Treibhausgase in der Atmosphäre. Für Ellis sind das frappierende Veränderungen; immerhin sei die Erde über vier Milliarden Jahre erstaunlich stabil gewesen.

Der Mensch als disruptive, zerstörerische Kraft wie keine andere Spezies vor ihm - diese Sichtweise wird erstmals Mitte des vorletzten Jahrhunderts in England und Italien artikuliert. Sie fällt nicht zufällig zusammen mit dem Aufkommen der Industrialisierung.

Auch wenn der Begriff Anthropozän schon in aller Munde ist - offiziell ist das neue Zeitalter noch nicht eingeläutet. Das hat Gründe, auf die Ellis in seinem Buch eingeht: Die Hüter der Zeit sind die Stratigraphen, die das Alter von Gesteinen bestimmen. Sie gehen nach strengen Kriterien vor: Ein neues Erdzeitalter auszurufen dauert sehr lange und bedarf eindeutiger Markierungen im Gestein, beispielsweise Fossilien.

Ellis gehört zu einer internationalen Forschergruppe der Leicester University in Großbritannien, die nach solchen Markern für das Anthropozän sucht. Für ihn markiert der im Gestein abgelagerte radioaktive Fallout nach den ersten Atombombentests das neue Zeitalter. Andere setzen den Beginn weit früher an: mit der industriellen Revolution und dem Verbrennen fossiler Energieträger. Fest steht: Seit den 1950er Jahren gibt es eine »exponentielle« Beschleunigung der Klimaerhitzung. Spätestens seit der Corona-Pandemie steht dieses Adjektiv für eine Gefahr, die irgendwann nicht mehr zu kontrollieren ist. Das gilt um so mehr für menschengemachte Veränderungen, wie Ellis anhand zahlreicher Diagramme nachweist: Wachstum, Bruttosozialprodukt, Wassernutzung, Düngerverbrauch, motorisierter Individualverkehr, internationaler Tourismus, Überschwemmungen und vor allem die Konzentration von CO2 in der Atmosphäre. In der Wissenschaft wird der Beginn der sogenannten »großen Beschleunigung« auf Mitte des vergangenen Jahrhunderts datiert. Düsenjets, die Sulfat in großen Mengen in der Atmosphäre ausbringen und so einen globalen Sonnenschirm schaffen würden, davon träumen auch einige der Erdsystemwissenschaftler. Ellis gehört nicht dazu: Die Nebenwirkungen - Dürren bis hin zum kompletten Ausfall des Monsunregens - seien nicht kalkulierbar.

Ellis räumt der Begriffsdebatte einige Kapitel ein. Den Verfechtern des »Kapitalozän« anstelle des »Anthropozän« kann er durchaus etwas abgewinnen. Ihre Argumentation, dass nicht alle Menschen gleichermaßen für die »große Beschleunigung« verantwortlich sind, liegt auf der Hand: Ein Bauer in Südasien verbraucht nur einen Bruchteil der Ressourcen wie ein Angehöriger der Mittelschicht in Europa. Dennoch plädiert Ellis nicht dafür, für das neue Erdzeitalter den Begriff »Kapitalozän« zu verwenden.

Womit sich Ellis in seinem Buch nicht beschäftigt, sind politische Handlungsanweisungen oder die Kritik an Fehlentscheidungen. Die Notwendigkeit einer globalen Regulierung steht für ihn zwar außer Frage - aber dass etwa auf den UN-Klimagipfeln Konzernlobbyisten regelmäßig notwendige Entscheidungen unterminieren, ist für Ellis kein Thema.

Ob die Menschheit ihr eigenes Handeln überleben wird, steht in den Sternen. Ellis hebt hervor, dass es in der Erdgeschichte schon mehrfach zum Massensterben gekommen ist - das bekannteste Beispiel sind die Dinosaurier. Die Erde hat immer »überlebt«, nur diverse Spezies nicht. Die Hoffnung will Ellis, der auch von der Option eines, Zitat, »guten Anthropozäns« spricht, noch nicht aufgegeben: Die Weltbevölkerung etwa wachse deutlich langsamer als in den 1970er Jahren. Andere, globale Bedrohungen seien ebenfalls erfolgreich abgewendet worden, zum Beispiel durch ein weltweites Verbot des Schädlingsbekämpfungsmittels DDT oder das Abkommen von Montreal, mit dem die Ozonschicht gerettet wurde. Doch um etwa die Klimakrise in den Griff zu bekommen, bedarf es mehr als Abkommen über einzelne Schadstoffe: Wird das Dogma des Wirtschaftswachstums nicht überwunden, wird es wohl keine Rettung mehr geben.

Erle C. Ellis Anthropozän. Das Zeitalter des Menschen. Eine Einführung. A. d. Engl. v. Gabriele Gockel. Oekom, 256 S., geb., 18 €.

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