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»Wer weint, hat immer recht«
Die Weigerung, in sich hineinzusehen: Thea Dorn schreibt im Briefroman »Trost« um den Tod herum
Es gibt Sätze, da bleibt völlig unklar, wie sie in ihre Bücher gekommen sind; Sätze, die derart umfassend herausfallen, dass man an einen Fehler glauben mag, an eine Verwechslung. In Thea Dorns Briefroman »Trost« kommt dieser Satz nach zwei Dritteln des Textes, er scheint unspektakulär einfach, und doch stellt er das ganze Buch auf den Kopf. Der Satz lautet: »Wer weint, hat immer recht.«
Geschrieben hat diesen Satz Johanna, eine Kulturredakteurin bei einer (wie sie meint) bedeutenden Zeitschrift, die kürzlich ihre Mutter an Covid-19 verloren hat. Die Mutter war eine lebenslustige Frau, Schauspielagentin, und hatte es sich nicht nehmen lassen, zu Beginn der Pandemie ins bereits schwer getroffene Norditalien zu fahren. Nach ihrer Rückkehr verstarb sie auf einer Intensivstation eines Münchner Klinikums, ohne dass die Tochter sie noch einmal gesehen hätte, weil sie nicht zu ihr vorgelassen wurde. In diesem Moment der Trauer flattert Johanna eine Postkarte ins Haus, von Max, ihrem ehemaligen philosophischen Lehrer, der sich inzwischen von der Welt abgewandt hat und auf einer griechischen Insel residiert.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
In ihrer Wut, ihrer Trauer und ihrem Zorn beginnt sie, ihm lange Briefe zu schreiben, die er hinwiederum mit Postkarten beantwortet, auf denen er einzelne Fragen notiert. Und Johanna antwortet in wüsten Schwallen, zitiert wahllos aus ihrem Bücherregal und kumpelt anschließend mit Canetti, Seneca, Platon, Sokrates oder Nietzsche herum. Das alles klingt, als würde eine zynische Museumsgängerin nach dem dritten Glas Wein anfangen »Sofies Welt« zusammenzufassen.
Es ist natürlich Rollenprosa. Ob Thea Dorn schreiben kann, bleibt deswegen unklar: sicher ist nur, dass Johanna es nicht kann. Besonders peinlich sind ihre Versuche, Narrative, die man inzwischen dutzendfach von diversen Verschwörungstheoretiker*innen gehört hat, in neue Kleider zu packen: da wird das »aufgeseuchte Völkchen« von »Mutti Staat« »aus allen Geldkanonen« von den Barrikaden geschossen. Oder aber es wird durch die abgeschossenen Geldkanonen verhindert, dass es überhaupt auf die Barrikaden geht. Oder aber die Barrikaden selbst werden verhindert. Es ist alles nicht so ganz klar.
Johanna ist eine zutiefst unsympathische, selbstsüchtige, konventionell denkende, oberflächliche Person ohne Witz und Esprit, dafür aber grausam und manieriert. Sie kann auch zutiefst lustig sein, aber auf ganz und gar unbeabsichtigte Weise. Beispielsweise erzählt sie Max, dass ihre Mutter an COPD, einer Lungenerkrankung, gelitten habe, oder, wie die Mutter es immer genannt habe: »COPD Blue«. Und weil aber Johanna ihren Max für nicht popkulturell gebildet genug hält, die Anspielung auf irgendwelche Cop-Serien zu verstehen, aber Thea Dorn den Witz für derart gut gelungen findet, das sie ihn nicht rausschmeißen mag: erklärt sie ihn im Text. Um anschließend zu sagen, der Witz sei gar jetzt auch gar nicht so wichtig.
An dieser Stelle zeigt sich das Grundproblem des Buches: Etwas sagen möchte Johanna eigentlich nicht. Sie hat auch gar nichts zu erzählen, sie poltert und schimpft und salbadert. Das Gerede von den gendernden Ökojakobinern in den Redaktionen ist derart schlecht gemacht und zigfach wieder aufgewärmt, dass man meinen möchte, es schmecke schon nach Erbrochenem. Der ganze Stil besteht in Johannas uneigentlichem Sprechen und ihrer eklatanten Weigerung, auch nur einen Moment in sich hineinzusehen. Man wünschte, Gisela Elsner hätte diesen Roman verarbeitet, dann wäre er immer noch trostlos, aber die Pointen säßen. Hier bestehen die Pointen darin, dass Johanna verspricht, redlich zu sein, um schlussendlich zu konstatieren, dass sie Sokrates doch nicht auf den Leim gegangen ist. Herzlichen Glückwunsch.
Wer weint, hat immer recht. Es ist vielleicht die einzig ergiebige Art, dieses Buch zu lesen, indem man Johanna ernst nimmt. Ihr scheint nicht aufzufallen, dass sie gar nicht weint; sie feiert, sie ergeht sich in Exzessen, sie ergibt sich ihrer Wut, die sie gegen alles richtet, was opportun erscheint: die Ärzt*innen und Pfleger*innen der Klinik, die sie nicht zu ihrer Mutter vorgelassen haben (skandalös, ohne Frage, aber sprechend eben auch, dass es sie - die Journalistin - nur interessiert, wenn es sie betrifft), die neuen Kolleg*innen, die andere Ideen haben und Probleme sehen als sie. Viel mehr Verständnis bringt sie da für ihre Mutter auf, die vielleicht eine interessante Frau gewesen ist, aber sicher nicht die liebende Person, die sich Johanna für sich selbst gewünscht hat.
Es könnte also ein weiteres mittelmäßiges, selbstentlarvendes Buch über die deutsche Bildungsbourgeoisie sein, nachlässig geschrieben und schlampig gedacht. Aber Thea Dorn hat auf das Coronathema aufgesattelt, so früh es irgendwie ging, was die Frage aufwirft: Was muss, was soll, was könnte die Literatur hier leisten? Und wie macht sie das? Auffällig, dass Dorn kaum über das Virus selbst schreibt, kaum einmal über die Krankheit, immer nur über die Maßnahmen, die zu seiner Eindämmung führen sollen. Die Mutter ihrer Protagonistin ist daran gestorben, und es interessiert sie aber überhaupt nicht, wie das vonstattengegangen ist. All ihre philosophischen Exkurse sollen sie nur davon ablenken, wie es ist, wenn Menschen ersticken. All ihr Seneca- und Platon-Geklingel hilft ihr zu beklagen, wie ihre Protagonistin nicht mehr saufen kann und ficken, wie sie will, sondern plötzlich gezwungen wird, Rücksicht zu nehmen.
Der Metawitz an der Sache ist, dass Thea Dorn gerade durch die Feuilletons tingelt mit der These, dass diese Gesellschaft todesvergessen sei. Dabei interessiert sie der Tod gar nicht, nicht was er bedeutet, nicht was er auslöst. In einem SWR-Podcast bricht sie die Tragik der aktuellen Situation darauf herab, dass alte Leute, die gerne in die Oper gehen, gerade nicht wissen, was sie mit sich anfangen sollen, weil: die Oper hat zu. Darin liegt für Dorn die Tragik der aktuellen Situation, es ist im Grunde eine Wohlstandsverwahrlosung, die die Autorin da vor sich herträgt. Auch deswegen bekommt sie das seltene Kunststück hin, auf 160 Seiten wahnwitzig langatmig zu klingen - weil sie nichts interessiert außer ihr Alter Ego Johanna und leider ist sie nicht sonderlich interessant.
Am Ende des Buches steht eine Postkarte, Johanna hat ihre Freund*innen mitgenommen und sie feiern eine Party auf irgendeiner Insel. Das ist ihre erzählerische Lösung: ein Eskapismus, den man sich leisten können muss. Alle hinter sich lassen, die weinen; alle hinter sich lassen, die recht haben. Einfach weiter feiern, und wer eine*n am feiern hindert, der ist bös; und dies ist das Böse am Tod, dass er eine*n am feiern hindert.
Was will Thea Dorn mit diesem Buch? Jedenfalls nicht über den Tod sprechen. Sie will weiterfeiern, weiter sorglos sein, und damit das Sterben der anderen perpetuieren. Und mit diesem Thema noch einmal daran zu verdienen, obwohl sie nichts dazu zu sagen hat. Canetti, den Dorn gerne und ausführlich verfälschend zitiert, war der Meinung, man müsse jeden Tod hassen, als wäre es der eigene. Bei Dorn wird daraus: Wer weint, hat immer recht. Und selbst diese Lektion vergisst sie am Ende; und das ist auch der Schluss, den dieser Roman nahelegt: das Bürgertum hat keine intellektuellen Ressourcen mehr, um auf Herausforderungen zu reagieren.
Thea Dorn: Trost. Penguin. 176 S., geb., 16 €.
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