Man will etwas herausfinden

Dem Schriftsteller und Drehbuchschreiber Wolfgang Kohlhaase zum 90. Eine Montage von Texten zu seinen Filmen. Von Günter Agde

  • Günter Agde
  • Lesedauer: 12 Min.

Er sei einer der besten Drehbuchschreiber des deutschen Kinos, sagt man, und meint damit Witz, Humor, Weisheit und Lakonik seiner Dialoge. Aber genau so glanzvoll ist Wolfgang Kohlhaases Fabulierfreude beim Erfinden von Filmfiguren und -geschichten. Seine Drehbücher wurden von den wichtigen deutschen Filmregisseuren verfilmt: Konrad Wolf, Frank Beyer, Volker Schlöndorff, Bernhard Wicki, Andreas Dresen. Die Filme, die er schrieb, haben den ostdeutschen Part des deutschen Nachkriegskinos wesentlich geprägt. Oft hat er über seine Arbeit und die Widersprüche in Kunst und Gesellschaft reflektiert. Mit ausgewählten Auskünften Kohlhaases zu seinen Filmen, zu Geschichte und Leben kann man ihm auf die Spur kommen.

Anfänge

Kohlhaase begann in den Trümmern und Wirren der unmittelbaren Nachkriegszeit in Berlin, als Autor und Redakteur der Zeitschrift »Start«, ein wöchentlich erscheinendes »illustriertes Blatt der jungen Generation«, ab 1946. Kohlhaases Themen: junge Leute im Nachkriegsberlin. So wie er.

»Die Zeitschrift hieß ›Start‹, der Chefredakteur als Ältester war vierundzwanzig, ich inzwischen sechzehn, wir waren kaum zehn Leute. Wegen der Außenpolitik ging man sich irgendwo erkundigen, aber sonst füllten wir die Zeitschrift, zwölf Seiten pro Woche, mit unseren entschiedenen und munteren Meinungen. Wir waren nicht mehr gottesfürchtig, man war es noch nicht wieder. Zur vernünftigen Regelung aller Dinge, dachten wir damals, fehle uns nichts als ein bisschen Zeit. Insofern waren wir auch Romantiker. Das vertrug sich durchaus mit einem Misstrauen großen Worten gegenüber, mit Nüchternheit, Ironie und Lakonität, mit Skepsis. Lebensgefühl hat viele Schichten. Von den Menschen, die ich kennenlernte, vor allem durch die Arbeit, waren einige Kommunisten. Niemand von ihnen trug eine Fahne vor sich her, kaum jemand sprach über das, was hinter ihm lag, jedenfalls nicht zu mir, nicht zu uns. Gelegentlich hörte man etwas von Lebenswegen, die die Grenzen des Vorstellbaren streiften. Merkwürdigerweise wurde man wie ein Partner behandelt. Nichts war geklärt und sollte nur nachvollzogen werden, nichts wurde vorgesagt. Belehrung fand statt, indem ein Vorschlag für ein radikales, alternatives Denken da war.« (Aus einem Interview mit Hans Richter, 1979)

Berlin-Filme

Viele von Kohlhaases Filmen sind Berlin-Filme: keine folkloristischen oder Heimatkiez-Filme, sondern Lebenshaltungs-Filme. Das lebendige Berlin als Lebensort: erst viergeteilt, dann zweigeteilt und schließlich eine Stadt, eine Großstadt: »Alarm im Zirkus« (1954, Gerhard Klein), »Berliner Romanze« (1956, Gerhard Klein), »Berlin - Ecke Schönhauser« (1956, Gerhard Klein), »Berlin um die Ecke« (1966/1990, Gerhard Klein), »Solo Sonny« (1980, Konrad Wolf), »Der Bruch« (1989, Frank Beyer), »Sommer vorm Balkon« (2005, Andreas Dresen).

»Wir haben diese Berliner Filme gemacht, weil uns ein bestimmter Abschnitt Wirklichkeit unseres Lebens, der sich in Berlin darbietet, sehr fasziniert hat, weil wir selbst aus Berlin und deshalb mit diesem Teil der Wirklichkeit auf eine ganz unkomplizierte, alltägliche Weise verbunden waren und nicht als Touristen durch dieses Land gewandert sind. Wir haben also versucht, das Problem der Nähe durch wirklich alltägliche Bekanntschaft zu lösen, und so die genannten Filme geschaffen. Wenn ich heute diese Arbeiten überblicke, glaube ich - Einschränkungen kann man immer machen -, dass in einem gewissen Maße die Frage der Nähe, d. h. der Milieutreue, der Detailtreue, die Frage der Kenntnis und der richtigen Darstellung der Einzelheiten, der richtigen Abbildung dessen, was gezeigt werden soll, in diesen Filmen gelöst sind.« (Aus dem Diskussionsbeitrag auf der Defa-Spielfilmkonferenz 1958)

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»Mitte der sechziger Jahre ist eine Anzahl von Filmen, die produziert worden waren, nicht aufgeführt worden, darunter auch einer von mir, ›Berlin um die Ecke‹. (Gerhard) Klein und ich hatten vorgehabt, gewisse Aspekte von ›Berlin - Ecke Schönhauser‹ weiterzuführen. Unser Engagement war nicht geringer, die immer wieder neuen Fragen anderer junger Leute gingen uns an; auch Filme, so dachten wir und so denke ich, sind Teil des öffentlich tätigen moralischen Bewusstseins in einer sozialistischen Gesellschaft. Zum ersten Mal saß ich damals, als es um unseren und andere Filme ging, in Diskussionen, aus denen ich voller Widerspruch und mit leerem Gefühl ging. Heute meine ich, dass eine aus komplexen Gründen erfolgte politische Standortbestimmung im Kostüm einer Kunstdiskussion auftrat. Es wurde etwas an Beispielen zu beweisen versucht, auf die nicht zutraf, was gesagt werden sollte, jedenfalls nicht in so schlichter Rigorosität. So konnten Frage und Antwort sich kaum begegnen.« (Aus einem Interview mit Hans Richter, 1979)

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Regine Sylvester: Die Stadt Berlin ist in »Sommer vorm Balkon« wieder eine Mitspielerin.

Wolfgang Kohlhaase: Du kannst Geschichten ja nur finden, wo du lebst. Daraus ergibt sich, was man sich zutraut. Sicher gehört auch ein bisschen die Einbildung dazu, dass man über eine bestimmte Sache besser Bescheid weiß als andere. Filme kann man über Königinnen machen oder über das Mädchen an der Ecke. Beides sind Säulen des Kinos. Aber da man mehr Mädchen von der Ecke kennt als Königinnen, ist es klar, was einem besser von der Hand geht.

Regine Sylvester: »Sommer vorm Balkon« hat große Nähe zu Ihrem Film »Solo Sunny«.

Wolfgang Kohlhaase: Kein Wunder. Es ist dieselbe Gegend, es sind ähnliche Leute. Es ist die Fortsetzung von Lebenslagen. Dass ich inzwischen fünfundzwanzig Jahre älter bin, wundert mich allerdings. (Aus einem Interview mit Regine Sylvester, 2005)

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Günter Gaus: Können Sie Ihre Geburtsstadt Berlin auf einen Generalnenner bringen, durch den sie unverwechselbar wird unter den Städten?

Wolfgang Kohlhaase: Für mich hat sie sehr viel Himmel. Sie ist schön, obgleich sie eigentlich hässlich ist. Sie hat beides. Sie hat keine Mitte. In meiner Kindheit lebte man in einer Ecke von Berlin, und die verließ man eigentlich nie, außer dass man mal zum Alex fuhr oder mal zum Zoo. Berlin war so groß, dass man in einen bestimmten Bereich gehörte. Berlin hat eine bestimmte Sprache mit einem Sinn für Gegensätzliches, eine lakonische Sprache - und weil Sie nach Sentimentalität gefragt haben, sicherlich: Ein Teil meines Gefühls bildet sich ab auch in dieser Sprache, die für mich ganz wichtig ist. Das heißt nicht, dass man immer berlinern muss. Dahinter steckt eine Denkweise.

Günter Gaus: Können Sie die noch näher beschreiben?

Wolfgang Kohlhaase: Vielleicht ist es so, wie überhaupt in großen Städten, in denen scharfe soziale Gegensätze bestehen: Es ist eine Sprache, die Brücken baut, und eine Sprache, in der man sich auch verstecken kann, eine Sprache gegen die Feierlichkeit. (Aus der Sendung »Zur Person« von Günter Gaus, ORB, 1998)

Über Konrad Wolf

Kohlhaases Filme über deutsche Geschichte waren Filme über Faschismus und über Krieg, unpathetisch, entschieden, ehrlich, keine Schlachtengemälde und Blutbäder, sondern Erzählungen über einfache Leute in schwierigen Konflikten. »Der Fall Gleiwitz« (1961, Gerhard Klein), »Ich war neunzehn« (1968, Konrad Wolf), »Mama ich lebe« (1977, Konrad Wolf), »Der Aufenthalt« (1983, Frank Beyer), »Die Grünstein-Variante« (1984, Bernhard Wicki).

»Konrad Wolf ist mit siebzehn zur Roten Armee gekommen, in einer Wendezeit, doch mögen es die Zeitgenossen eher für eine Zeitenwende gehalten haben. Jene Armee hatte an der Wolga den Krieg gewendet. Fortan rief Wolf den Männern im deutschen Ostheer zu, den verlorenen Kampf zu beenden. Die hielten das aber für Landesverrat, zunehmende Ausnahmen behandelten die Standgerichte. Er sprach mit Gefangenen und seltenen Überläufern und entwarf Flugblätter. An Majdanek, Sachsenhausen und Sanssouci vorbei fuhr er mit dem hinfälligen Lastwagen, auf den ein Lautsprecher montiert war, bis Berlin. Drei Jahre lang hat er Tagebücher und Briefe geschrieben, russisch, wie es die Militärregeln verlangten, das er aber auch besser sprach als Deutsch. Was waren ihm, als er neunzehn war, seine Landsleute, die bis zum letzten Tag schossen und andererseits die Hitlerbilder rechtzeitig von der Wand nahmen?

Es war nicht so, dass er hier gleich leben wollte. Was aber waren die Deutschen, die von den Russen besetzt wurden, sich selbst? Was wollten sie künftig sein? Wer jung genug und alt genug war, begriff die Stunde nicht als letzte, sondern als erste. Ein radikal anderes Denken wurde verfügbar.« (Aus: »Die Frage nach dem Sinn von allem - Konrad Wolf«, ND, 1995)

Über Frank Beyer

»Leute unseres Alters waren an einem Kino interessiert, das sich an die Wirklichkeit hielt. So gut es ging, sahen wir uns nach Beispielen um, angefangen bei den Neorealisten, aber auch bei Polen, Russen, Ungarn oder Franzosen, und wir blickten kaum auf den westdeutschen Film, der seine cineastische Revolte noch vor sich hatte.

Was die DDR anging, so lebte sie mit Mängeln, denen die Politik den Mangel an Offenheit hinzufügte. Wer den Alltag beschrieb, begegnete schnell Besserwissern. Es war leichter, die Geschichte zu zitieren. Das Gerede vom verordneten Antifaschismus aber trifft nicht den Punkt und trifft schon gar nicht Frank Beyer.« (Aus Kohlhaases Trauerrede für Frank Beyer, 2006)

Über die DDR, später

Nach dem Ende der DDR schrieb Kohlhaase weiter. »Die Stille nach dem Schuss« (2000, Volker Schlöndorff), »Sommer vorm Balkon« (2005, Andreas Dresen), »Whisky mit Wodka« (2009, Andreas Dresen), »Als wir träumten« (2015, Andreas Dresen) »In Zeiten des abnehmenden Lichts« (2017, Matti Geschonneck).

Günter Gaus: Wenn Sie Ihr Leben (…) auf eine Summe bringen: Hat Ihnen der Sozialismus eingeleuchtet?

Wolfgang Kohlhaase: Ja. Der hat mir unbedingt eingeleuchtet, weil ich denke, es kann so irrig nicht gewesen sein, eine Gesellschaft ins Auge zu fassen, in der das Geld nicht alle Dinge regelt. Dazu hat es aber auch auf die einfachste Weise mit den vielen Jahren meines Lebens zu tun. Mit anderen gemeinsam hatten wir Träume, vielleicht auch Illusionen. Aber wie immer es war: Ich wäre nicht reicher heute, wenn ich diese Träume nicht gehabt hätte.

Günter Gaus: Hat die DDR den Versuch gelohnt?

Wolfgang Kohlhaase: Es gibt ja kein »Hätte«. Es ist so gekommen. Jede Geschichte hat eine Vorgeschichte. So haben auch die vierzig Jahre der deutschen Trennung ihre Vorgeschichte, und ich glaube, den Versuch hat es gelohnt. Es hat auch die Anstrengung vieler Leute gelohnt, auch wenn das Ende so ist, wie es ist. Ironisch gesagt: Selbst dass es so nicht ging, war den Nachweis wert.

Günter Gaus: Machen Sie sich über Ihre Haltung Vorwürfe? Was werfen Sie sich vor, falls Sie sich etwas vorwerfen?

Wolfgang Kohlhaase: Ich frage mich, weil das, was wir jahrzehntelang leise gesagt haben, manchmal auch in unseren Filmen, manchmal auch in Büchern, in Gedichten, in Texten usw. - ich frage mich, warum das als Gegenströmung und als Gegenbild, und zwar nicht als ein antisozialistisches Gegenbild, sondern als ein anderes Bild von Sozialismus, was sozusagen in den Winkeln dieser Gesellschaft war -, ich frage mich, warum es nicht mehr in die Mitte gekommen ist. Und ich frage mich natürlich: Was habe ich versäumt?

Günter Gaus: Wann haben Sie angefangen zu zweifeln am Fortbestand der DDR?

Wolfgang Kohlhaase: Diesen sozusagen sehr schnellen Gleitflug nach unten, der es dann am Ende war, habe ich nicht kommen sehen. Ich habe aber natürlich gemerkt - wie viele in diesem Land -, dass sich der Vorrat, oder sagen wir mal: die Schubkraft in der Gesellschaft, die von der Redewendung ›Noch nicht, aber es wird sein!‹ herrührte, verbrauchte. Dass das Land über seine Verhältnisse lebte, dass es nicht nur materiell, sondern auch geistig, von der Hand in den Mund lebte. Und als Gorbatschow auftauchte, um mal diesen Namen zu nennen, und als eine Irritation in den Beziehungen zwischen der DDR und der Sowjetunion entstand, habe ich gedacht: Das Eis wird sehr dünn.» (Aus der Sendung «Zur Person» von Günter Gaus, ORB, 1998)

Über «Als wir träumten»

Frage: Was war für Sie die Essenz des Romans?

Wolfgang Kohlhaase: Interessiert haben mich die Figuren und die Sprache. Nicht nur im Thema, auch in der Erzählweise herrscht kunstvolle Anarchie. Motive schoben sich in- und übereinander, es gab Rückblenden, Zeitsprünge, ganze Komplexe, die nicht eindeutig zu gliedern waren. Mit einer braven Erzählweise hätte man die Wildheit des Romans verloren. Es gibt ja Prosa, die kinoähnlich strukturiert ist; andere Prosa achtet darauf, nicht verfilmbar zu sein, und sie ist nicht die schlechtere.

Frage: Es gibt also für Sie die Unverfilmbarkeit von Literatur?

Wolfgang Kohlhaase: Ja, das könnte sein. Sprache ist eine eigene Nachricht. (…) Wer ein Buch liest, nimmt das Gelesene mit in die Fantasie. Man kann vor- und zurückblättern. Im Kino will der Zuschauer, wenn das Licht wieder angeht, wissen, was er soeben gesehen hat.« (Aus einem Interview des Verleihs, 2015)

Über »Abnehmendes Licht«

Frage: Was haben Sie beim Lesen von Eugen Ruges Roman »In Zeiten des abnehmenden Lichts« für sich entdeckt?

Wolfgang Kohlhaase: Zunächst möchte ich sagen, dass ich gern seinen Vater gelesen habe, den Historiker Wolfgang Ruge. Er schrieb erhellend und unprofessoral über die Weimarer Republik und über die Umstände, die zu Hitler führten. Eugen Ruge kannte ich nicht. Ich las »In Zeiten des abnehmenden Lichts«, und mir fiel der Ton der Geschichte auf, ein leichter Ton für ein schweres Thema. Dann erfuhr ich, dass er über seine Familie geschrieben hatte. Ich hatte Menschen mit ähnlichen deutschen Lebensläufen kennengelernt, wie Ruge sie beschreibt. Ihre Wege waren Fluchtwege und hatten um die Welt geführt, nach Frankreich und Mexiko, nach New York und Moskau. Und manche hatten mit linker Gesinnung in sibirischen Lagern überlebt. Solche Menschen waren damals, bald nach dem Krieg, als ich anfing, zu denken und zu lesen, sehr wichtig für mich.

Frage: Sehen Sie »In Zeiten des abnehmenden Lichts« als Film, der gegen das Vergessen anspielt?

Wolfgang Kohlhaase: Es gibt dieses schöne Wort, wonach erzählt werden kann, was beendet ist. Da sind wir wieder beim Abstand, sowohl dem des Schreibers und Filmemachers als auch dem des Zuschauers. Man schreibt ja nicht, weil man es besser weiß als andere, sondern weil man durch das Schreiben etwas herausfinden will, auch über einen selbst. Einen Film zu machen, das ist eine Reise des Herzens, zu der man ein Publikum hinzubittet. (Aus einem Interview des Verleihs, 2017)

Zum 90. Jubiläum erscheinen: Wolfgang Kohlhaase: Erfindung einer Sprache und andere Erzählungen. Wagenbach, 192 S., br., 18 €;

Wolfgang Kohlhaase, 12 Defa-Filme 1953-1988: 12 DVDs, Jubiläumsedition (Icestorm);

Wolfgang Kohlhaase: Um die Ecke in die Welt. Über Filme und Freunde. Verlag Neues Leben, 336 S., geb., 20 €.

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