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Zwischen Chaos und missglückter Utopie
Die Bewertung der Pariser Kommune entzweit noch heute die Gemüter in Frankreich. Oder inspiriert sie
Pierre Nora, einer der bedeutendsten Historiker Frankreichs, hat in einem Rundfunkinterview auf die Frage, ob beide Ereignisse es wert seien, dass man sie würdigt, geantwortet: »Napoleon ja, die Kommune nein.« Napoleon habe den Fortschritt der Französischen Revolution nach ganz Europa getragen, während die Kommune keine positive Spur in der Geschichte hinterlassen habe. Das entspricht der Sichtweise des französischen Bürgertums und dem Tenor an den Universitäten und Schulen sowie in den Medien - wenn denn die Kommune überhaupt behandelt und nicht eher als peinliche »Fußnote der Geschichte« unter den Teppich gekehrt wird. Und diese Sicht hat in der breiten Volksmeinung Spuren hinterlassen.
Besonders zugespitzt kam diese feindselige Einschätzung auf einer Sitzung des Pariser Stadtrates Anfang Februar zum Ausdruck, als das Ratsmitglied Rudolphe Granier von der rechten Oppositionspartei der Republikaner der sozialistischen Bürgermeisterin Annie Hidalgo vorwarf, sie unterstütze die Vereinigung der Freunde der Kommune mit Geld aus der Stadtkasse. Mit den von der Stadtverwaltung zum 150-jährigen Jubiläum geplanten Veranstaltungen wolle sie die Kommune »feiern und glorifizieren«, dabei sei die »brutal und gewalttätig« gewesen und habe »durch Brandstiftung ganze Teile der Stadt verwüstet«. Der rechtsbürgerliche Politiker vergaß nicht darauf hinzuweisen, dass einer der Co-Präsidenten der Vereinigung der Freunde der Kommune ein »ehemaliger Kommunistenführer« ist. Damit glaubte er wohl deutlich gemacht zu haben, was man von denen zu halten hat, die sich auf das Erbe der Kommune berufen und ihr Andenken hochhalten.
Der solcherart polemisch vereinnahmte Co-Präsident, der Historiker Roger Martelli, zeigt sich darüber nicht verwundert. Hasserfüllte Attacken ist er gewohnt. Er steht dazu, dass er zwischen 1982 und 2008 erst Mitglied des Zentralkomitees und dann des Exekutivkomitees der Kommunistischen Partei war, doch er gehörte zum Flügel der »Erneuerer« und hat die FKP 2010 ernüchtert und enttäuscht verlassen. »Solche verbalen Angriffe sind ein Rückfall in finsterste Zeiten der Konfrontation zwischen Rechts und Links«, sagt er. »Das ist der Ton der Versailler.« Damit meint er die bürgerliche Regierung unter Adolphe Thiers, die sich Anfang 1871 aus Furcht vor den revolutionär gesinnten Parisern in den Vorort der Hauptstadt zurückgezogen hat, wo sich die prachtvolle Sommerresidenz der französischen Könige befand, um von dort aus die Kommune mit allen Mitteln zu bekämpfen.
In der sogenannten Blutwoche vom 21. bis 28. Mai 1871 waren 20 000 bis 30 000 Kommunarden auf den Barrikaden oder bei Massenexekutionen niedergemetzelt worden. »Diese Zahlen werden kaum einmal erwähnt, umso öfter die der rund 100 Geiseln, die von den Kommunarden erschossen wurden«, beklagt Martelli. Für ihn gibt es eine Kontinuität von der Revolution von 1789, die zwar eine bürgerliche Revolution war, aber weitgehend von den Volksmassen getragen wurde, über die Pariser Kommune 1871 und die Volksfront 1936 bis zu den Hoffnungen, die viele Franzosen in die Linksregierung 1981 gesetzt haben.
Das Schweigen der Schulbücher
Die fortschrittlichen Anliegen der Kommune versucht das offizielle Frankreich herunterzuspielen oder totzuschweigen. Dabei handelte es sich um einen Versuch, die von der Revolution von 1848 angekündigte »demokratische und soziale Republik« zu verwirklichen. Mit vielem von dem, was sie in den nur 72 Tagen beschlossen und oft auch schon auf den Weg gebracht hatten, waren die Kommunarden der historischen Entwicklung um Jahrzehnte voraus. Die von ihnen angestrebten progressiven Veränderungen wurden meist erst viel später realisiert, so die Trennung von Kirche und Staat, kostenlose Schul- und Berufsausbildung, Zugang zur Justiz für alle, die Anerkennung von Paaren ohne Trauschein. Manche blieben auf Papier, etwa gleicher Lohn für Frauen und Männer. Um andere Ziele, die von der Kommune schon in Angriff genommen wurden, muss noch heute gekämpft werden, etwa die vorbehaltlose Einbürgerung von Ausländern, die Requirierung leerstehender Wohnungen für Obdachlose oder die Konfiskation von nicht genutzten Produktionsmitteln.
All das kommt in den Geschichtsbüchern kaum oder nur oberflächlich vor. Meist beschränkt sich die Behandlung der Kommune auf Ereignisse oder Randerscheinungen, die Vorurteile bedienen. Das trifft ganz besonders auf die Schullehrbücher zu, von denen manche die Kommune ganz und gar übergehen. Umso bemerkenswerter ist es, dass sich heute immer öfter junge Franzosen aus eigenem Antrieb für die Pariser Kommune interessieren und aus ihr Anregungen schöpfen, vor allem was die Elemente direkter Demokratie betrifft, beispielsweise Volksabstimmung, Mitbestimmung, Selbstverwaltung oder Rechenschaftspflicht von Abgeordneten ihren Wählern gegenüber. Auch die spontane Protestbewegung der »Gelbwesten« 2018/19 hat sich auf die Ideen der Kommune berufen. Feministinnen schöpfen aus den Quellen der Kommune für ihren Kampf und auch die Ökologen können sich auf sie und die von ihr erhobene Forderung berufen, die Natur verantwortungsvoll und mit Respekt zu behandeln.
Für Touristen in Paris gehört der Vendôme-Platz zum Pflichtprogramm und kein Fremdenführer versäumt es zu schildern, wie die Kommunarden die in der Mitte des Platzes stehende Säule mit der Napoleon-Figur an ihrer Spitze umgestürzt haben, um so das Ende der reaktionären Vergangenheit zu demonstrieren. Entsprechend wichtig war es für die Regierung nach der Niederschlagung der Kommune, die Säule wieder aufzubauen, um zu zeigen, dass sich alles wieder an seinem Platz befindet. Leider ist das oft das einzige, was Ausländer über die Pariser Kommune erfahren und nach Hause mitnehmen. Im Stadtbild fehlt die Kommune fast völlig. Erst seit dem Jahr 2000 heißt im Stadtviertel Butte-aux-Cailles ein Platz, wo Ende Mai 1871 eine der letzten Barrikaden verteidigt wurde, »Place de la Commune de Paris«. Martelli verweist darauf, dass seit der Kommunalwahl 2001, als die Sozialisten, unterstützt durch Kommunisten und Grüne, die Stadtregierung übernommen haben, auf Anregung der Freunde der Pariser Kommune auch einige Straßen nach herausragenden Kommunarden benannt wurden. Es wurde auch Zeit, zumal viele Pariser Avenuen und Boulevards schon lange die Namen von Generälen und Marschällen Napoleons tragen. Der Vorschlag, eine Metrostation nach der Pariser Kommune zu benennen, wird jedoch von den städtischen Verkehrsbetrieben RATP seit Jahren auf die lange Bank geschoben - und die sozialistische Bürgermeisterin lässt es geschehen. Umso empörter sind die Freunde der Pariser Kommune, dass demnächst die Basilika Sacré-Coeur auf dem Montmartre-Hügel, wo das blutige Gemetzel unter den Kommunarden seinen Anfang nahm, unter Denkmalschutz gestellt werden soll. Sie wurde nach der Niederschlagung der Kommune mit den Spendengeldern einer landesweiten Sammlung der Katholischen Kirche errichtet und sollte die »Versündigung« und die »Schmach« tilgen, die die Kommune für das Land bedeutet habe.
Gemeinsames Gedenken möglich
Bis heute hält sich in der französischen Gesellschaft die Überzeugung, dass die Pariser Kommune und die Pflege ihres Erbes vor allem ein Anliegen der FKP ist. Doch diese ist erst 1920 gegründet worden, während das Andenken an die Kommune seit 1880 öffentlich gepflegt wird, als eine Amnestie für die zur Verbannung verurteilten Kommunarden erlassen wurde und sie sowie ihre Kameraden zurückkehren konnten, die sich 1871 durch Flucht ins Ausland retten mussten. Seitdem fand jedes Jahr am letzten Maiwochenende eine »Wallfahrt« zur »Mauer der Föderierten« auf dem Pariser Friedhof Père-Lachaise statt, wo am 28. Mai 1871 die letzten Kommunarden zusammengetrieben, erschossen und in einem Massengrab verscharrt worden sind. Während der von Kommunisten und Sozialisten gemeinsam getragenen Volksfront 1935/36 gab es zum Gedenken an den »Blutmai« die größten Demonstrationen an der »Mauer der Föderierten« mit jeweils 500 000 Teilnehmern.
Nach dem Krieg und unter dem Einfluss des Kalten Krieges und Antikommunismus versammelten sich hier Kommunisten, Sozialisten, Anarchisten und später auch Maoisten und andere extrem linke Organisationen - getrennt und möglichst noch an verschiedenen Tagen. »Zur 100-Jahr-Feier 1971 gab es noch einmal eine große Demonstration, die von den Kommunisten organisiert worden war und an der auch Sozialisten teilnahmen«, erinnert sich Martelli. Seitdem hat das die Vereinigung der Freunde der Kommune übernommen und sie legt Wert darauf, dass das Gedenken an die Pariser Kommune parteienübergreifend und frei von Konkurrenzdenken gehalten wird, so wie einst bei der Kommune selbst.
Macron ehrt eher Napoleon
Aber obwohl sich jetzt Linke unterschiedlichster Herkunft gemeinsam an der Mauer versammeln können, sind es seit Jahren bestenfalls Tausend, räumt Martelli ein. Doch er ist optimistisch und erinnert an die Resolution der Nationalversammlung vom November 2016, mit der eine Mehrheit von - nicht nur linken - Abgeordneten dazu aufgerufen hat, »die Opfer der Blutwoche vom Mai 1871 zu rehabilitieren« und »die republikanischen Werte der Pariser Kommune besser bekannt zu machen«. Es sei an der Zeit, dass »die Republik die Männer und Frauen ehrt und würdigt, die für die Freiheit gekämpft haben«. Diese Resolution gilt es endlich mit Leben zu erfüllen, so Martelli. Dagegen seien Töne von rechts wie Anfang Februar im Pariser Stadtrat nur geeignet, »wieder eine bürgerkriegsähnliche Stimmung heraufzubeschwören«.
1971 hatte anlässlich des 100. Jahrestages der konservative Präsident Georges Pompidou die »Mauer der Föderierten« besucht und sich vor der Gedenktafel mit der schlichten Inschrift: »Den Toten der Kommune, 21. - 28. Mai 1871« verneigte. Ob sich dazu in diesem Jahr auch Präsident Emmanuel Macron durchringen wird, bleibt abzuwarten. In seinem Umfeld ist man eher skeptisch: Er halte es mehr mit Napoleon.
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