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  • Systemrelevante Berufe in der Coronakrise

»Beschäftigte fühlen sich ausgenutzt«

Der Sozialwissenschaftler Philipp Tolios forscht zur Bedeutung systemrelevanter Berufe in der Coronakrise

  • Peter Nowak
  • Lesedauer: 4 Min.

Welchen Sinn hat es, so unterschiedliche Berufe wie Ärzt*innen und Kassierer*innen unter dem Label systemrelevante Berufe zusammenzufassen?

Keinen. Unsere Arbeitswelt lässt sich nicht aus der Vogelperspektive in relevante und irrelevante Berufe trennen, dafür sind unsere Gesellschaften zu komplex und zu divers. Den Wert des Begriffs sehe ich eher in seinen negativen Qualitäten: Er stellt die historisch gewachsenen Muster in Frage, nach denen wir uns am Arbeitsmarkt orientieren, etwa welche Tätigkeiten angesehen sind, was man in welchem Job erwarten beziehungsweise fordern darf und was nicht. Uns bietet sich gerade die Möglichkeit, diese Dinge neu zu verhandeln.

Philipp Tolios
Der Sozialwissenschaftler und Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung ist Autor der von der Rosa-Luxemburg-Stiftung veröffentlichten Studie »Systemrelevante Berufe Sozialstrukturelle Lage und Maßnahmen zu ihrer Aufwertung«. Sie kann hier bestellt werden.

Wie gehen Beschäftigte und Gewerkschaften mit dem Begriff um?

Die Gewerkschaften unterscheiden sich in der Hinsicht nicht vom Rest der Gesellschaft. Sie diskutieren diesen Begriff kontrovers. Schließlich liegt es auf der Hand, dass er dazu dienen kann, Gruppen von Arbeitnehmer*innen gegeneinander auszuspielen. Gleichzeitig haben die Gewerkschaften, wo möglich, »Systemrelevanz« geschickt als Argument eingesetzt. Insgesamt handelt es sich um einen eher pragmatischen Umgang. Bei Beschäftigten scheint sich hingegen nach der anfänglichen Freude über die Anerkennung mittlerweile der Eindruck auszubreiten, man werde ausgenutzt. Der Begriff verliert also langsam seine Strahlkraft.

Kann der Begriff trotzdem für die Durchsetzung von Lohnforderungen und Verbesserungen am Arbeitsplatz ein Mittel sein? Gibt es dafür nach einem Jahr Pandemie Beispiele?

Ja, selbstverständlich. Das Verbot von Werkverträgen in der Fleischindustrie war ein wichtiger Erfolg, auch weil es die Themen Arbeitsschutz und Arbeitsbedingungen aufs Tapet gebracht hat. Einmalzahlungen wiederum kamen denjenigen zugute, die während der ersten Welle arbeiten mussten. Auch auf betrieblicher Ebene haben systemrelevante Beschäftigte teilweise gute Tarifabschlüsse erzielt. Die mittel- und langfristige Perspektive ist hingegen beunruhigend. Gerade mit Blick auf die Kranken- und Altenpflege besteht die Gefahr, dass die Attraktivität dieser Berufe sogar noch zurückgeht. Diesen ohnehin stark belasteten Berufsgruppen wurde und wird in der Pandemie Enormes abgefordert. Bisher haben sie dafür einmalig zwischen 1000 und 1500 Euro gesehen.

Kann die zunehmende Digitalisierung und Automatisierung nicht eher zu mehr Überwachung und schlechteren Arbeitsbedingungen beitragen?

Die Entgrenzung von Arbeit im Homeoffice ist in der Tat ein Problem und führt hoffentlich dazu, dass der Punkt Arbeitszeiterfassung wieder eine stärkere Rolle spielt. Der beste Schutz liegt darin, sich im Betrieb zu organisieren, Betriebsräte zu gründen und – vor allem – anschließend mit ihnen im Kontakt bleiben. Beim Thema Überwachung und Kontrolle am Arbeitsplatz haben Betriebsräte schon jetzt geeignete Instrumente an der Hand. Gerade wenn man sich aber nicht mehr physisch trifft, ist der Kontakt zur Belegschaft umso wichtiger. Betriebsräte sind keine Selbstläufer und ständig darauf angewiesen, dass engagierte Mitglieder nachkommen und sie über Entwicklungen am Arbeitsplatz informiert bleiben.

Welche konkreten Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsplätze schlagen Sie in Ihrer Studie vor?

Es gibt zum Glück viele Maßnahmen, die man ergreifen könnte. Ein zentraler Punkt betrifft die Tarifflucht von Arbeitgeber*innen. Allgemeinverbindlichkeitserklärungen ausgewählter Tarifverträge können ein Mittel sein, aber nur in Bereichen, in denen Gewerkschaften zu schwach sind, selbstständig welche auszuhandeln. Arbeitgeber*innen sollten durch die Mitgliedschaft in einem Verband die Verpflichtung eingehen, die verhandelten Abschlüsse zu übernehmen. Man darf aber nicht vergessen, dass die mit Abstand am schlechtesten bezahlten Berufe nicht systemrelevant sind. Dazu gehören Jobs in der Gastronomie, der Hotellerie oder im körpernahen Dienstleistungsbereich, also beispielsweise Friseur*innen. Hier wäre eine bessere Durchsetzung des Mindestlohns sinnvoll.

Könnte die Diskussion um systemrelevante Berufe zur Aufwertung von Beschäftigungen führen, die bisher vor allem von Frauen ausgeübt wurden?

Ich glaube schon. Corona hat uns die Arbeit in vielen überwiegend von Frauen ausgeübten Berufen schlagartig ins Bewusstsein geführt. Dazu gehören vor allem Sozial- und Gesundheitsberufe. Die Pandemie hat aber nur für die nötige Sichtbarkeit gesorgt, und Dankbarkeit ist leider keine politische Kategorie. Beschäftigte in diesen Berufen werden nicht drum herum kommen, sich aktiv für ihre Interessen einzusetzen.

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