- Politik
- Kleiner Waffenschein
Die Thüringer rüsten weiter auf
Polizei warnt vor einer trügerischen Sicherheit bei Besitzern von Schreckschuss- oder Reizgaswaffen
Praktisch jeder Volljährige, der nicht vorbestraft ist, kann ihn bekommen; und das – eigentlich ungewöhnlich für deutsche Verhältnisse – ziemlich unbürokratisch, ohne dafür einen besonderen Sachverstand nachweisen zu müssen: einen Kleinen Waffenschein. Der erlaubt es seinem Inhaber, zum Beispiel Schreckschusswaffen nicht nur zu kaufen, sondern sie in der Öffentlichkeit auch noch schussbereit bei sich zu tragen.
Die Nachfrage nach einer solchen waffenrechtlichen Erlaubnis ist in Thüringen ungebrochen hoch. So waren nach Daten des Thüringer Innenministeriums Ende 2020 etwa 13 500 Männer und Frauen im Freistaat im Besitz eines Kleines Waffenscheins. Zum Vergleichsstichtag – dem 31. Dezember des Vorjahres – waren es noch etwa 12 400 Kleiner-Waffenschein-Inhaber gewesen; im Jahr 2018 zuvor waren es etwa 10 800. Von 2018 auf 2019 war die Zahl der Thüringer, die über einen Kleinen Waffenschein verfügen, damit um etwa 14 Prozent gestiegen. Von 2019 auf 2020 anschließend um weitere etwa neun Prozent.
Über die Gründe für diese Entwicklung kann man nur spekulieren. Aus dem Innenministerium heißt es, es seien jeweils individuelle Beweggründe, die Männer und Frauen dazu trieben, sich zumindest die Erlaubnis zu besorgen, Schreckschusswaffen und ähnliche Gegenstände in der Öffentlichkeit bei sich zu führen. Diese seien im Ministerium im Einzelnen nicht bekannt.
Bereits nach dem großen Zuzug von Geflüchteten 2015/2016 kam es zu einem Anstieg bei den Bewaffnungen. So hatten sich beispielsweise 2016 zahlreiche Menschen über eine Webseite namens »Migrantenschreck« illegal Schusswaffen nach Hause bestellt, die von sich beteuern, vor der »Flüchtlingskrise« niemals auch nur mit dem Gedanken gespielt zu haben, sich zu bewaffnen. Journalisten der »Süddeutschen Zeitung« hatten einige Waffenkäufer später besucht und waren dabei beispielsweise auf eine Frau getroffen, die angab, die »Angst vor Flüchtlingen« habe sie zu dem Kauf bewogen. Aber gleichzeitig beteuerte sie, die Ausländer, die mit ihr in einem Haus wohnten, seien »alles ganz liebe Leute«.
Der Betreiber der Webseite Migrantenschreck – ein gebürtiger Thüringer und Rechtsextremist – war wegen des Handeltreibens mit den Waffen vom Landgericht Berlin zu zwei Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt worden. Das Urteil ist rechtskräftig. Bei den Waffen hatte es sich nicht um Schreckschusswaffen gehandelt, sondern um Waffen, die Hartgummigeschosse verschießen können. Die durften auch von Inhabern eines Kleinen Waffenscheins in Deutschland nicht gekauft werden.
Es ist naheliegend, davon auszugehen, dass auch die teilweise realen, teilweise abstrakten Unsicherheiten der Coronakrise ihren Beitrag dazu geleistet haben, dass die Thüringer 2020 weiter aufgerüstet haben.
Auffällig an der weiterhin steigenden Zahl der Inhaber von Kleinen Waffenscheinen in Thüringen ist, dass ihre Zahl tatsächlich flächendeckend zunimmt. Die Zahl der ausgegeben Kleinen Waffenscheine hat nach den Daten des Innenministeriums in allen Landkreisen 2020 zugenommen. So gab es Ende 2020 beispielsweise in Suhl 57 Inhaber von Kleinen Waffenscheinen mehr als Ende 2019. Im Landkreis Schmalkalden-Meiningen waren es 60 Inhaber mehr, im Landkreis Hildburghausen 24 und im Wartburgkreis einschließlich Eisenachs waren es 58 Inhaber mehr. Anders als bei der Beantragung eines vollwertigen Waffenscheins beziehungsweiser einer Waffenbesitzkarte muss jemand, der einen Kleinen Waffenschein haben möchte, weder ein Bedürfnis für den Besitz oder das Führen einer Schreckschuss- oder Reizgaswaffe noch eine bestimmte Sachkunde im Umgang damit nachweisen.
Die Polizei warnt immer wieder, dass das Führen von Schreckschuss- oder Reizgaswaffen bestenfalls zu einer trügerischen Sicherheit führt – und tatsächlich nicht dazu geeignet ist, potenzielle Straftäter abzuschrecken oder zu bekämpfen. Dagegen sei das Risiko groß, dass Menschen, die keine Erfahrung im Umgang mit Waffen haben, sich durch Schreckschuss- oder Reizgaswaffen selbst verletzten oder von Straftätern entwaffnet werden, die diese Waffen dann gegen ihre Besitzer wenden.
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