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Die Revolution der Frauen
Vor 100 Jahren veranstalteten kritische Sportlerinnen erstmals eigene Weltspiele. In kurzer Zeit erzwangen sie die Öffnung der männlich dominierten Olympischen Spiele - doch bis heute kann von Gleichstellung keine Rede sein.
Baron Pierre de Coubertin betrachtete Sport als eine männliche Angelegenheit. »Die Frau ist eine Gefährtin des Mannes und die zukünftige Mutter der Familie«, sagte der Gründer der modernen Olympischen Spiele. »Ihre Hauptaufgabe sollte darin bestehen, die Sieger zu krönen.« Diese Haltung war an der Schwelle zum 20. Jahrhundert weit verbreitet: Sport von Frauen sei unästhetisch und könne ihre Gebärfähigkeit beeinträchtigen. So blieben 1896 in Athen dann auch die ersten Olympischen Spiele der Neuzeit für Frauen verschlossen. Bei den folgenden vier Spielen bis 1912 wurden einige olympische Sportarten für wenige Frauen geöffnet, etwa Golf, Tennis und Bogenschießen.
»Der Zugang zur Kernsportart Leichtathletik blieb versperrt«, sagt die Sportsoziologin Petra Tzschoppe. »Aber einige Frauen lehnten sich gegen diese strengen Regeln auf.« Zum Beispiel Alice Milliat. Die französische Lehrerin war im Schwimmen aktiv, nahm an Autorennen teil, bestritt ein Ruderrennen über 80 Kilometer. Als sie vorübergehend in London lebte, beschäftigte sie sich mit den Suffragetten, einer der wichtigsten Frauenrechtsbewegungen im frühen 20. Jahrhundert. Dabei lernte sie Sportlerinnen kennen, die von ähnlichen Erfahrungen berichteten: von Trainingsübungen in langen Hosen, versteckt hinter Mauern und Büschen. Von Journalisten, die sie im Gegensatz zu Männern beim Vornamen ansprachen. Von herablassenden Kommentaren ihrer Ehemänner.
Mit einem Brief wandte sich Milliat 1919 an das Internationale Olympische Komitee IOC - und forderte die Gleichberechtigung von Frauen bei den Spielen 1920 in Antwerpen. Sie dachte, dass die Zeit dafür reif sei: Während des Ersten Weltkrieges hatten Hunderttausende Frauen in Fabriken mehr Verantwortung übernehmen müssen. Inzwischen hatten Frauen auch in einigen Ländern das Wahlrecht erhalten. Das IOC lehnte dennoch eine Gleichbehandlung ab. In England verbot der Fußballverband 1921 sogar den Wettbewerb für Frauen, andere Verbände in Europa zogen nach.
Alice Milliat glaubte, dass Sport das Selbstvertrauen von jungen Frauen stärken könne. Mit Mitstreiterinnen aus allen sozialen Milieus gründete sie den Internationalen Frauensportverband FSFI. Vor 100 Jahren, Ende März 1921, organisierten sie die ersten Frauenweltspiele in Monte Carlo - ein Aufbegehren gegen den Männerbund IOC. Rund 100 Sportlerinnen aus England, Frankreich, Italien und der Schweiz nahmen teil. Die männlich geprägten Zeitungsredaktionen schenkten der Frauensportbewegung jedoch wenig Beachtung. Für sie waren die Sportlerinnen exotische Aussätzige.
Beispielhaft dafür steht die italienische Radrennfahrerin Alfonsina Strada, die sich 1924 mit dem männlichen Vornamen Alfonsin an den Start des Giro d’Italia gemogelt hatte. Oder die US-Amerikanerin Gertrud Ederle, die 1926 als erste Frau den Ärmelkanal durchschwamm. Milliat wollte aber über solche Schlagzeilen hinaus Strukturen schaffen. Im August 1922 fanden die zweiten Weltspiele in Paris statt - als »Frauen-Olympiade« mit 20 000 Zuschauern. Im Zentrum: die Leichtathletik, die das IOC bei seinen Olympischen Spielen nicht für Frauen öffnen wollte. Journalisten verbreiteten die Gerüchte, dass einige Sportlerinnen während der Wettkämpfe in Ohnmacht fielen oder »hysterisch« weinten. Trotzdem wuchs die Bewegung. »Das IOC fürchtete Konkurrenz und untersagte Milliat die Nutzung des Namens Olympiade«, erinnert Petra Tzschoppe von der Universität Leipzig. »Die Sportfunktionäre wollten die Frauen wieder unter Kontrolle bringen.«
Bei den dritten Weltspielen 1926 in Göteborg waren Frauen aus zehn Ländern vertreten. Und Milliat schickte weiter kritische Briefe an die Sportfunktionäre. Irgendwann gab das IOC nach. Der Begriff »Frauen« tauchte erstmals in der Olympischen Charta auf. Die Spiele 1928 in Amsterdam wurden in der Leichtathletik für Frauen geöffnet. Den Lauf über 800 Meter gewann die Deutsche Lina Radke. Doch viele Journalisten wollten sich nicht an erschöpfte Sportlerinnen gewöhnen, die Zeitung »De Maasbode« notierte: »Es war ein erbarmungswürdiger Anblick, diese Mädchen nach dem Einlauf wie tote Spatzen zu Boden purzeln zu sehen.« So kam es, dass Frauen bis 1960 keine olympischen Rennen mehr über 200 Meter bestritten.
Die Weltspiele der Frauen fanden bis 1934 noch zweimal statt. Das IOC öffnete weitere Wettbewerbe, im Gegenzug verzichtete der Frauensportverband auf eigene Großveranstaltungen. Alice Milliat konnte bis zu ihrem Tod 1957 noch die Einführung des Frauenwahlrechts in ihrer Heimat Frankreich erleben. Doch den Weg zur Gleichstellung im Sport mussten andere Frauen fortsetzen: Die US-Läuferin Kathrine Switzer war Ende der 60er Jahre eine Pionierin im Marathon. Die US-Tennisspielerin Billie Jean King forderte Anfang der 70er Jahre höhere Preisgelder und startete eine eigene Turnierserie. Die marokkanische Hürdenläuferin Nawal El Moutawakel gewann bei den Olympischen Spielen 1984 als erste Muslimin Gold.
»Sportarten wie Turnen oder Eiskunstlauf, die vermeintlich elegante Körperbilder bedienen, sind heute für Frauen viel akzeptierter«, sagt die Journalistin Alina Schwermer, die bei der »taz« die Kolumne »Erste Frauen« verfasst. »Die Teamsportarten wurden von den Funktionären mit Sorge betrachtet. Sie glaubten, dass sich Frauen dort solidarisieren könnten.« Der Deutsche Fußball-Bund erlaubte ihren Spielbetrieb erst 1970. Und auch das olympische Programm wurde nur in kleinen Schritten durchlässiger. Bei den Sommerspielen dürfen Frauen erst seit 1996 Fußball spielen und seit 2012 in den Boxring steigen. Bei den Winterspielen dürfen sie erst seit 1998 im Eishockey und seit 2002 im Bob starten. In vielen Winterdisziplinen sind Frauen auf kürzeren Strecken unterwegs, beim Skispringen von der Großschanze müssen sie noch immer zuschauen.
Noch deutlicher wird die Ungleichheit auf der Entscheidungsebene. Das IOC nahm erstmals 1981 Frauen als Mitglieder auf und gründete 1995 eine Arbeitsgruppe für die Förderung von Frauen im Sport. Bei den jüngsten vier Olympischen Spielen, in Sommer und Winter, war in der Sportlerbetreuung nur etwa jedes zehnte Mitglied weiblich. Von den großen olympischen Fachverbänden wird aktuell nur die Internationale Triathlon-Union von einer Frau geleitet, von der Spanierin Marisol Casado.
Unter den Nationalverbänden gilt der Deutsche Olympische Sportbund als relativ fortschrittlich. Seit der Einführung einer Geschlechterquote 2014 sollen in allen Gremien mindestens 30 Prozent Frauen sein. Einige Landessportbünde und Spitzensportverbände haben Stipendien und Führungsseminare für Frauen aufgelegt, doch sie sträuben sich meist gegen Quoten, auch bei der Ausbildung von Trainerinnen und Kampfrichterinnen.
»In Sportgremien sollten möglichst viele unterschiedliche Menschen sitzen«, meint Alina Schwermer. »Doch für dieses Engagement muss es auch das passende Umfeld geben. Frauen in Gremien sind seltener verheiratet und haben weniger Kinder.« Mit einem familienfreundlichen Vereinsbetrieb würden sich wohl mehr Mädchen und Frauen dem Sport langfristig verschreiben. Mit wachsender Sichtbarkeit könnte auch das Interesse von Sponsoren und Medien zunehmen. »Es war gar nicht so einfach, Themen über Frauen in Medien unterzubringen«, sagt die Journalistin Nina Probst über die meist männlich geprägten Sportredaktionen. »Wir wollen mehr Aufmerksamkeit auf die Leistungen von Sportlerinnen lenken, damit Mädchen sie als Vorbilder wahrnehmen können.« Probst hat mit einem kleinen Team das Internetportal »Sportfrauen« aufgelegt. Nun sucht sie nach Werbepartnerschaften. Doch noch ist das Sponsorenumfeld im Männersport sehr viel größer. Laut dem US-Magazin »Forbes« sind unter den 100 bestbezahlten Sportlern nur zwei Frauen, die Tennisspielerinnen Naomi Osaka und Serena Williams. Zumindest bei den Olympischen Spielen in diesem Sommer in Tokio werden fast so viele Frauen wie Männer an den Start gehen. 100 Jahre mussten dafür vergehen seit der Revolution von Alice Milliat.
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