Steilvorlagen für die extreme Rechte

Beinahe die Hälfte der Franzosen hält es für wahrscheinlich, dass Marine Le Pen nächste Präsidentin wird

  • Bernard Schmid, Paris
  • Lesedauer: 5 Min.

Madame schreckt vor nichts zurück: Marine Le Pen gibt Lehren in Sachen Antirassismus. Ihre jüngste Lektion erteilte sie am Dienstag der traditionsreichen Studierendengewerkschaft UNEF: Sie breche »mit der republikanischen Tradition«, erklärte die rechtsextreme Politikerin dem Radiosender France Inter, denn diese bestehe darin, dass »jeder vor dem Gesetz gleich sei, was auch immer seine Rasse, seine Herkunft oder seine Religion sei«.

Auf den ersten Blick erstaunliche Töne für die Chefin des Rassemblement National (RN, Nationale Sammlungsbewegung), wie der Name des früheren Front National (FN) seit 2018 lautet. Die 1972 gegründete, über Jahrzehnte weitgehend unverhüllt neofaschistische Partei bemüht sich seit gut zehn Jahren um eine neue Strategie. Sie setzt seither vor allem auf wahlpolitischen und institutionellen Erfolg und hat die früher ebenfalls praktizierte Straßengewalt quasi aufgegeben. Noch 1999 tagte eine parlamentarische Untersuchungskommission und veröffentlichte einen dickleibigen Enquetebericht zu ihrem paramilitärischen Ordnerdienst DPS (Département protection sécurité), der damals dicht an einem Verbot vorbeischrammte.

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So weit, antirassistisch zu werden, ging die taktisch begründete Wandlung der Rechtsaußenpartei unterdessen nicht. Des Rätsels Lösung zeigt sich schnell, wenn man weiß, in welchem Kontext die Äußerung von Le Pen steht. Es ging ihr darum, die UNEF – die ihre großen Zeiten im Widerstand gegen Frankreichs kolonialen Algerienkrieg hatte – dafür zu kritisieren, dass sie in jüngerer Vergangenheit Plena speziell für Angehörige besonders von Diskriminierung betroffener Gruppen, etwa für Schwarze oder in anderem Zusammenhang für Frauen, organisierte. Dies räumte ihre Vorsitzende Mélanie Luce kürzlich in einem Interview mit dem Radiosender Europe 1 ein.

Rechter Shitstorm

Auch unter Linken aller Strömungen finden durchaus kontroverse Debatten um eine solche Praxis statt. Bei Rechten aller Schattierungen löste dies jedoch einen wahren Shitstorm aus. Bildungsminister Jean-Michel Blanquer, der als konservativer Flügelmann in der Regierung von Präsident Emmanuel Macron und Premierminister Jean Castex gilt, warf der Studierendengewerkschaft unverblümt vor, sich »auf dem Abhang zum Faschismus« zu befinden, womit er sich nicht nur im Ton vergriff. Der konservative Rechtsausleger Eric Ciotti, Abgeordneter von Nizza, verlangte unverzüglich das gesetzliche Verbot der UNEF – eine Premiere für die etablierte Gewerkschaftsorganisation.

Marine Le Pen griff also in diesem Punkt nur die Offensive der rechteren Teile des bürgerlichen Lagers auf. Letztere forderten bereits seit Oktober vielfach Eingriffe in die Freiheit der Lehre gegen angeblich »linke islamfreundliche Umtriebe« an Hochschulen. Dass die Chefin des RN politisch die Alte geblieben ist, machte sie schon deutlich, während sie gegen die UNEF polterte. Im selben Interview verkündete sie, falls sie im Mai 2022 zur Staatspräsidentin gewählt würde, werde ihre allererste Maßnahme »eine Volksabstimmung zur Einwanderung« werden.

Es war nicht das einzige Mal in jüngerer Zeit, dass das Regierungslager mit Vorstößen und Kampagnen argumentativ und ideologisch Wasser auf ihre Mühlen goss. Präsident Emmanuel Macron selbst gab kurz vor Weihnachten dem Wochenmagazin »L’Express« ein Interview, in dem er unter anderem historische Figuren wie den rechtsextremen Charles Maurras von der Action française und den Nazi-Kollaborateur Philippe Pétain erneut in Teilaspekten rehabilitierte. Macron hatte Maurras zuvor bereits in einer Rede zur Inneren Sicherheit indirekt zitiert und Pétain bei anderer Gelegenheit als »großen Militär« bezeichnet.

Taktisches Kalkül

Den Kontext solcher Äußerungen bildet wohl das Bestreben, bei der Präsidentschaftswahl im Frühjahr 2022 wieder eine Konstellation herbeizuführen, bei welcher sich der Wirtschaftsliberale Emmanuel Macron und die Neofaschistin Marine Le Pen als einzige Alternativoptionen gegenüberstehen. Beide bilden für das jeweilige Gegenüber den Wunschkonkurrenten, gegen den sich die eigene Anhängerschaft und verwandte politische Kräfte am besten zusammenschweißen lassen. Das Regierungslager ist dabei insbesondere darum bemüht, jede linke Wahloption auszuschließen, sodass die linken Kräfte dazu gezwungen würden, sich wieder für das kleinere Übel zu entscheiden und hinter den derzeit Regierenden die Reihen zu schließen.

Macron und seine Partei La République en Marche (Die Republik in Bewegung) wollen sich auf diese Weise eine Art politische Lebensversicherung schaffen. Dabei schrecken sie nicht davor zurück, der extremen Rechten in der innenpolitischen Debatte immer wieder Nahrung zu verschaffen, indem sie deren Thesen oder zumindest deren Themen als legitim darstellen. Bisweilen versucht man sogar, sich als konsequenterer Vollstrecker rechter Wünsche darzustellen.

So debattierten im Februar Innenminister Gérald Darmanin und Marine Le Pen über zwei Stunden zu bester abendlicher Sendezeit im öffentlichen Fernsehen miteinander. Einer der seitdem vielzitierten Schlüsselsätze Darmanins lautete, an Le Pen gerichtet: »Ich finde Sie ziemlich weich« (Je vous trouve bien molle). Die rechtsextreme Politikerin hatte sich argumentationstaktisch dazu entschieden zu behaupten, ihre Partei bekämpfe keineswegs Muslime, sondern ausschließlich Islamisten. Ihr rhetorischer Trick besteht dabei allerdings darin, dass sie jegliche öffentliche Sichtbarkeit muslimischer Religionszugehörigkeit, etwa das Kopftuchtragen, unter das Label angeblicher Manifestationen von Islamismus fasst.

Zugleich fordert Le Pen eine Sonderjustiz, unter anderem mit einem speziell einzurichtenden »Staatsgerichtshof«, für alle durch tatsächliche und vermeintliche Islamisten begangenen Taten. Ausnahmeregelungen im Straf- und Strafprozessrecht, wie sie derzeit im Bereich Terrorismus gelten, sollen nach ihrer Vorstellung auf einen lediglich durch Gesinnung oder behauptete Gesinnung markierten riesigen Sektor ausgedehnt werden. Ähnliches fordert übrigens auch der Abgeordnete Eric Ciotti. Minister Darmanin antwortete darauf jedoch nicht etwa mit inhaltlicher Kritik, sondern mit dem Argument, er selbst gehe neben Islamisten – also politischen Aktivisten – auch gegen muslimische Religionsausübung vor, wenn er etwa Moscheen überprüfen oder durchsuchen lasse, und sei daher in der Ausübung der Staatsautorität konsequenter als Le Pen.

Nach einer Umfrage des demoskopischen Instituts Elabe vom 11. März halten 48 Prozent der Französinnen und Franzosen einen Sieg der RN-Chefin bei der Präsidentschaftswahl in dreizehn Monaten für »wahrscheinlich«. Diese Zahl war noch nie so hoch.

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