- Politik
- Chile
Impfen schützt vor Lockdown nicht
Chile verhängt neue Ausgangssperren und verschiebt die Wahlen zum Verfassungskonvent
»Wir befürchten, bald überfordert zu sein, nicht mehr alle Menschen medizinisch versorgen zu können.« Die Aussage von Izkia Siches lässt in Chile die Alarmglocke läuten. Die Präsidentin der Ärztekammer machte im staatlichen Fernsehsender TVN auf die aktuelle Entwicklung der Corona-Pandemie aufmerksam. Derzeit sind so viele Menschen wie noch nie in Krankenhäuser eingewiesen. Die Belegung liegt bei 97 Prozent und die Welle wächst unentwegt.
In Chile ist die zweite Welle voll im Gange. 5000 Neuinfektionen kommen derzeit täglich in dem südamerikanischen Land dazu, das knapp 20 Millionen Einwohner*innen zählt. Und das, obwohl das Land pro 100 000 Einwohner weltweit an fünfter Stille der Impfrangliste liegt - hinter Israel, den Vereinigten Arabischen Emiraten, dem Vereinigten Königreich und den USA. Der Grund für die schlechten Zahlen liegt für Juan Ilabaca, Dozent für öffentliche Gesundheit an der Universidad de Chile, in der »Selbstgefälligkeit der Regierung bei der Impfkampagne«. »Aufgrund der Schnelligkeit wurden viele Maßnahmen zurückgenommen und das verfügbare Personal etwa von er Kontaktverfolgung in die Impfkampagne verlagert«, so Ilabaca gegenüber »nd«. Dabei wurde insbesondere auch die Mahnung zur Beibehaltung der Vorsicht gegenüber der Bevölkerung vernachlässigt.
Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Trotz bereits steigender Zahlen begann Anfang März teilweise der Präsenzunterricht an Schulen. Restaurants, Kinos und Shoppingcenter wurden geöffnet. Wären da nicht die Masken, wirkte das Leben in Santiago wie vor der Pandemie. Zudem wurden immer mehr Berufszweige als systemrelevant eingestuft, womit die Arbeiter*innen zurück in die Büros mussten und selbst bei totalen Lockdowns zur Arbeit gehen können. Siches bezeichnete vor einer Woche die chilenische Version des Lockdowns, als »eine der schlechtesten, die es in der Welt gibt«.
Die gleichzeitige laufende Impfkampagne ist laut Ilabaca noch nicht genügend vorangeschritten, um ernsthafte Auswirkungen auf die Pandemie zu haben. »Der Anteil der Bevölkerung mit der zweiten Dosis ist immer noch zu klein«, gerade einmal ein Sechstel hat diese bereits bekommen. Expert*innen stimmen überein, dass erst im Juni die nötige Zahl der Impfungen mit der zweiten Dosis erreicht sein dürfte.
Maria Van Kerkhove, Expertin der Weltgesundheitsorganisation, wies derweil darauf hin, dass die Impfkampagne »nur einer von vielen Bausteinen ist, um Ansteckungen zu verhindern. Wir können uns nicht allein darauf verlassen.« Chile sei der Beweis, dass eine Fokussierung aufs Impfen alleine nicht funktionieren würde.
Derweil verringert sich zumindest die Zahl der über 65-Jährigen in den Spitälern. Eine Altersgruppe, die bereits zum großen Teil eine zweite Dosis bekommen hat. Über eine entscheidend geringere Wirkkraft des eingesetzten chinesischen Impfstoffs Sinovac wurde aus der Praxis bislang nicht berichtet.
Die Regierung weist alle Vermutungen zurück, wonach die rasche Verbreitung und der Ernst der Lage auf neue Mutanten zurückzuführen seien. Bisher wurden nur fünf Personen positiv auf die deutlich gefährlichere Variante P.1 mit Ursprung in Brasilien getestet. Allerdings finden keine flächendeckenden Tests in diese Richtung statt.
Mehrere Länder haben mittlerweile ihre Grenzen zu Brasilien geschlossen. Am Samstag verschärfte auch Chile die Einreisebestimmungen. Nun müssen sich alle einreisenden Personen in Chile einem PCR-Test unterziehen und auf eigene Kosten drei Tage isoliert in einem Hotel verbringen.
In der vergangenen Woche musste die Regierung viele Lockerungsmaßnahmen zurücknehmen und regionale Lockdowns verhängen. Ganz Santiago und die meisten Großstädte haben nun wieder Ausgangssperren. Über das Wochenende durfte niemand, mit Ausnahme von Personen mit systemrelevanten Berufen, das Haus verlassen. Auch Einkaufen war nicht gestattet.
Die zweite Welle betrifft auch das politische Geschehen. Eigentlich hätten am 10. und 11. April Kommunal-, Regional- und Wahlen für die Verfassunggebende Versammlung stattfinden sollen. Die Ärztekammer verlangte bereits vergangene Woche, dass der Termin verschoben werden sollte.
Am Sonntagabend bat der rechte Präsident Sebastián Piñera schließlich das Parlament, einen Gesetzestext zu verabschieden, der die Verschiebung der Wahlen um fünf Wochen veranlasst. Das Parlament wird sich dem kaum verschließen, so dass dem Antrag in den kommenden Tagen stattgegeben werden dürfte. Die Wahlen sind nun für den 15. und 16. Mai geplant.
Auch wenn Teile der Opposition diese Entscheidung begrüßen, kritisieren sie, dass die Regierung bislang keine Verantwortung für die Wucht der zweiten Welle und deren Folgen übernommen hat. Die christdemokratische Senatspräsidentin machte am Montag die Erweiterung von Sozialhilfen zur Bedingung, um den Gesetzestext zur Verschiebung der Wahlen anzunehmen. Dabei erwähnte sie auch die Einführung eines allgemeinen Grundeinkommens.
Gerade für den armen Teil der Bevölkerung ist es besonders schwierig, die Lockdown-Maßnahmen einzuhalten. Schon vergangene Woche verlangte deshalb die Ärztekammer einen harten und kurzen Lockdown, bei dem deutlich weniger Unternehmen als systemrelevant eingestuft werden und der zudem mit sozialen Maßnahmen flankiert wird. »Nur so kann der Lockdown auch effektiv wirken.« Menschenansammlungen bei Wahlen wären da nur kontraproduktiv.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.