Licht ist immer

»The Hill We Climb«, das Gedicht, das Amanda Gorman bei der Amtseinführung von Joe Biden vortrug, ist in deutscher Übersetzung erschienen

  • Vincent Sauer
  • Lesedauer: 6 Min.

In einer sozialistischen Zeitung muss man »The Hill We Climb - Den Hügel hinauf« ernst nehmen und sich nicht über die Verfasserin Amanda Gorman als Harvard-Absolventin, »kleines, dünnes Schwarzes Mädchen«, wie sie schreibt, Tochter einer alleinerziehenden Mutter und »Vogue«-Cover-Model freuen oder beklagen. Das Gedicht hat Gorman am 20. Januar zur Inauguration Joe Bidens ins Präsidentenamt in Washington vorgetragen.

Wer die heißeste Übersetzungsdebatte des Jahrtausends rekonstruieren will, suche im Internet nach »Amanda«, »Gorman«, »Translation« und begebe sich bei ganz großem Interesse hinter internationale Paywalls. Der identitätspolitische Diskurs hüllte sich wie ein Schutzmantel um ein Gedicht, dessen Inhalt gar nicht mehr zur Debatte stand.

Wer sich darüber aufregt, dass der Verlag Hoffmann und Campe für 10 Euro 60 Seiten mit viel Weiß und kurzen Zeilen feilbietet, kann »The Hill We Climb« im Internet suchen und ein beliebiges Übersetzungsprogramm als Vokabelhilfe für einen ziemlich einfachen Text nutzen. Dass die (streng) autorisierte deutsche Fassung »Den Hügel hinauf« drei Übersetzerinnen beschäftigte, von denen nur eine nachweislich vorher mit Lyrik zu tun hatte, ist ein Aufregerchen für den deutschen Literaturbetrieb, also nebensächlich.

Amanda Gormans Gedicht machte in Washington die jüngere Vergangenheit der neuen Staatsspitze vergessen, die vor allem von einer Liebe zum Strafen geprägt war: Bidens »Crime Control Act« etwa, den er 1994 als Vorsitzender des Justizausschusses des Senats maßgeblich mitformulierte und der die Todesstrafe ausweitete, die höhere Bildung für Inhaftierte abschaffte und »Boot Camps« für jugendliche Delinquenten einführte. Kamala Harris brachte als kalifornische Justizsenatorin Grasdealer en masse in den Knast, was deren Familien durchaus in den Ruin treiben konnte.

Folgt man dem, was da steht, adressiert Gormans Gedicht an erster Stelle ebenjenen »Mr. President«, Joe Biden plus Gattin Dr. Biden, dann besagte »Madam Vice President«, Kamala Harris inklusive Ehemann, und erst an dritter Stelle die »Bürger*innen Amerikas und der Welt«. Diese zeremoniell zertifizierte Reihenfolge folgt einem politischen Programm, denn »The Hill We Climb« offenbart sich schnell als von oben verordnete Träumerei über den Zustand der USA. Mit rhetorischen Mittelchen aus dem Lehrwerk ergriff Gorman ihr Laien- wie Profi-Publikum anscheinend so tief drinnen, dass man sich ganz wunderbar über die Wirklichkeit erhoben fühlte und den katastrophalen Zustand im Land der schier unbegrenzten Möglichkeiten und arg eingeschränkten Lebenswirklichkeiten mal eben nicht mehr wahrnahm.

Im Gedicht finden sich für kulturell Beflissene genug Anspielungen auf staatlich anerkannte Vorbilder, Gormans Vorgängerschar in der amerikanischen Inauguraldichtung und die Bibel, sodass das, was das Gedicht tut - verklären -, meist unbemerkt blieb. Und da Politik für die Mittelschicht vom Himmel fällt, kann Talkshow-Milliardärin Oprah Winfrey in ihrem Vorwort auch schreiben, »The Hill We Climb« sei »Balsam für die Seele« - so mag, wer heute mit leerem Blick und Grinsen herrscht, die Kunst.

»Wir haben tief in den Abgrund geblickt./ Wir haben gesehen, dass Ruhe nicht immer gleich Friede ist,/ unsere Anschauung und Auslegung dessen,/ was scheinbar recht ist, nicht immer gerecht.« Abgesehen davon, dass man sich bei diesen Binsenweisheiten weniger berauscht denn für dumm verkauft fühlen darf, ist im Original am Anfang der Zeilengruppe von »We’ve braved the belly of the beast« die Rede. Das kommt vom biblischen Jona, der bekanntlich in den Bauch eines Wals musste, weil er entgegen Gottes Willen nicht nach Ninive ging, um den schlechten Menschen dort mit Strafen zu drohen. In den Anmerkungen der Übersetzerinnen wird erklärt, dass dieser »belly of the beast« alltagssprachlich die fürchterlichen Zustände in den US-Gefängnissen bezeichnet, was angesichts der genannten Strafrechtsvorstellungen von Biden und Harris schlicht zynisch ist.

Dass den deutschen Übersetzerinnen Kübra Gümüsay, Hadija Haruna-Oelker und Uda Strätling für den billigen Gleichklang am Ende von »And the norms and notions of what ›just is‹/ isn’t always justice« keine schmissigere Übersetzung eingefallen ist, bleibt ihnen unbenommen. Die Zeilen »But while democracy can be periodically delayed/ It never can be permanently defeated« mit »Aber die Demokratie mag sich zeitweise hemmen lassen/ doch nie für alle Zeit verhindern« ins Deutsche zu übersetzen, klingt aber nicht nur holprig, sondern gibt Anlass nachzudenken über politische Begriffe, die schwerlich dichterisch zu verstehen sind: Ist es nicht sehr suggestiv, zu behaupten, die Wahl Trumps zum Präsidenten sei ein »delay«, also Verzögerung, von Demokratie, außer man versteht unter democracy einzig und allein die Democratic Party?

Dass die gesamte Bevölkerung eine jede Wahl ausbaden muss, ist per se demokratisch. Wie lässt sich Demokratie »hemmen«? Das klingt kompliziert, denn gehemmt wird etwas, bevor es bzw. damit es nicht zum Ausbruch kommt - eine üble Vorstellung, wenn’s um die, wenn auch gewählte, Herrschaft geht. Dass »defeated« mit »verhindert« übersetzt wird, nimmt dem Gedicht die Wahrheit, dass ein Gesellschaftssystem schlicht zugrunde gehen kann, und schwächt die wohl eher unbeabsichtigte Radikalität ab.

Aber Gormans Gedicht ist in die Zukunft gerichtet, ein kräftiger, eloquenter Wunsch nach vorne und Vorbote der großen Post-Trump-Verheißung. Zumindest für fast alle, die darüber schreiben. Nur kann man dieses poetische Projektil bei genauerer Lektüre auch auf nicht auf die leichte Schulter nehmen: »Wir schließen die Gräben,/ weil wir begreifen:/ Soll an erster Stelle die Zukunft stehen,/ müssen wir erst/ von unseren Differenzen absehen«. Wer die Worte »Spaltung« und »Hass« für ganz grässlich hält, findet diese Zeilen vielleicht ganz lieb. Bleibt die Frage, von welchen Differenzen man absieht? Okay, Race und Gender: siehe Kabinett Biden. Und wie steht’s, naiv gefragt, mit der Klasse? Dem ständigen Einschnitt in Selbstbestimmung, dem sich keine Identität entziehen kann?

In einer solchen Zukunft wäre von der Unterdrückung, Ungleichheit, Ausbeutung, auf der die kapitalistische Produktionsweise fußt, nicht mehr die Rede, will man nicht zum miesepetrigen Verräter werden. Wer diesen Weg aber mitgeht auf den titelgebenden Hügel und in das »versprochene Licht« gelangt, dichtet Gorman später im Gedicht, müsse sich nur »trauen« auf eine neue Weise »amerikanisch« zu sein: »denn amerikanisch sein ist mehr als/ der uns überkommene Stolz -/ es ist die Vergangenheit, die wir beerben/ und wie wir gutmachen werden«. Im Original ist weniger moralisch von »gutmachen«, sondern technokratisch-mechanisch von »repair« die Rede. Das Problem liegt darin, dass die Vergangenheit nur fürs eigene reinliche Bewusstsein gutgemacht werden kann. Stattdessen tritt auf den Plan »change, our children’s brithright«, also »Wandel unserer Kinder Anrecht«: Mit dem Argument »Change«, schöngeredet als Chance auf neue Herausforderungen, begründet man in der Start-Up-Kultur gerne Massenentlassungen.

Für alle, die im Laufe von Bidens und Harris’ bisherigem Leben, also ihren Karrieren, ergo Weg nach ganz oben, mittellos hinter Gitter kamen, ist ein Plätzchen im »versprochenen Licht« ebenfalls passé. Auf gute Lebensführung lebenslänglich kommt es an. Das Gedicht schließt mit den Zeilen: »Denn Licht ist immer,/ wenn wir es nur in uns zu finden wagen./ Wenn wir uns zutrauen, es weiterzutragen.« Alternativ könnte dort »Augen zu und durch« oder »Maul halten, weiterarbeiten« stehen.

Amanda Gorman: The Hill We Climb - Den Hügel hinauf: Zweisprachige Ausgabe. A. d. amerik. Engl. v. Kübra Gümüsay, Hadija Haruna-Oelker, Uda Strätling. Hoffmann und Campe, 64 S., geb., 10 €.

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