Vom Irrsinn, Pflege als Profitcenter zu organisieren

Warum das Gesundheitswesen wieder eine öffentlich finanzierte soziale Infrastruktur im Sinne der Gemeinwohlökonomie werden muss

  • Franz Segbers
  • Lesedauer: 9 Min.

Das Nein der Caritas zu allgemeinverbindlichen Tarifverträgen in der Altenpflege vom 25. Februar hat zu einem Sturm der Empörung geführt. Endlich liegt ein Tarifvertrag vor, der bundesweit für über eine Million Frauen und Männer den Mindestlohn für Beschäftigte in der Pflege erhöht hätte. Und dann lassen die Caritas-Arbeitgeber den Vertrag mitten in der Coronakrise platzen. Was daran kritikwürdig ist, dass es kein Flächentarif für die Pflegebranche zustande gekommen ist, gilt es sorgfältig zu untersuchen. Eine Kritik, die sich allein an den Caritasverband richtet, wird dem Thema nicht gerecht.

Die Coronakrise wirkt wie ein Brandbeschleuniger für Probleme, die schon länger vorliegen. Endlich rückte der Skandal zu niedriger Löhne in der Altenhilfe ins öffentliche Bewusstsein. Ausgeblendet bleiben jedoch die strukturellen Ursachen und der gewollte politische Prozess.

Franz Segbers
Der Theologe und Sozialwissenschaftler, Jahrgang 1949, hat eine außerplanmäßige Professur für Sozialethik im Fachbereich Evangelische Theologie an der Philipps-Universität Marburg inne. Segbers ist seit langem sozial engagiert. So war er Vorsitzender der Liga der freien Wohlfahrtsverbände in Rheinland-Pfalz,organisierte Proteste gegen die Kürzungspolitik des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU), war Mitverfasser und Erstunterzeichner des Aufrufs von Wissenschaftlern gegen den »Kahlschlag im Sozialetat« in Hessen und beteiligte sich an einer Hessischen Sozialcharta sowie an Sozialforen. Er ist Referent für Ethik und Sozialpolitik im Diakonischen Werk in Hessen und Nassau und vertrat die Linkspartei 2012 in der Bundesversammlung bei der Wahl des Bundespräsidenten.

1995 hatte die Politik auf die steigenden Pflegekosten einer alternden Gesellschaft mit der Einführung der Pflegeversicherung reagiert. Der bis dahin geltende Branchentarifvertrag wurde aufgegeben und die Selbstkostendeckung ebenso abgeschafft wie das Gewinnerzielungsverbot. Damit die Träger sich wechselseitig unterbieten, wurde die Pflege in ein Marktmodell überführt. Die zuvor ausgeschlossenen privaten Anbieter wurden zugelassen. Diese dienten als Hebel zur Kostenreduzierung. Damit man mit der Pflege zugleich Kosten einsparen und Gewinne erwirtschaften konnte, wurde die Minutenpflege eingeführt. Wer schneller arbeitet, kann Kosten sparen und Gewinne erzielen. All das bedeutete einen Bruch mit der bisherigen Konstruktion des Gesundheitswesens; die Pflege von Menschen wurde zu einer Gelegenheit zur Profitmaximierung.

Der Markt wird es schon richten - diese Antwort der Politik auf die Kostensteigerung der Pflege trieb die gemeinnützigen Wohlfahrtsverbände wie die Caritas mit ihren an den Öffentlichen Dienst angelehnten Gehaltsstrukturen in einen allseitigen Wettbewerb mit privaten Anbietern und deren »Haustarifen«. Da die Kosten in der Pflege zu 70 bis 80 Prozent aus Lohnkosten bestehen, gerieten gerade viele kommunalen Einrichtungen mit ihren tarifgebundenen Löhnen in ökonomische Probleme und wurden von privaten Trägern übernommen.

Wie erwartet, trieben die Anbieter ihre Kosten nach unten. In den Pflegesatzverhandlungen wurde lange anhand des »externen Vergleichs« ein regionaler Mittelwert der Kosten errechnet, der bindend für die Refinanzierung war.

Damit aber gerieten Träger wie Caritas und Diakonie mit ihren höheren Lohnkosten unter Druck. Gute Arbeitsbedingungen und Tariflöhne der wohlfahrtsverbandlichen Anbieter wurden so zu einem »Luxus«, den die Kassen nicht mehr vollständig refinanzieren wollten.

Spätestens in der Coronakrise kam ein böses Erwachen: Es fehlte an Pflegepersonal. Tausende gut ausgebildete Pflegekräfte kehrten seit Jahren ihrem Beruf den Rücken. Immer weniger Frauen und Männer waren bereit, die Arbeitsbedingungen im Profitcenter »Pflege« zu akzeptieren.

2013 hatte ein Urteil des Bundessozialgerichts endlich Tariflöhne und ortsübliche Gehälter als wirtschaftlich anerkannt - also auch die von Caritas und Diakonie höher gezahlten Löhne innerhalb eines differenzierten Lohnniveaus in der Altenpflege.

Gegen die politisch in Gang gesetzte Ausbreitung von Dumpinglöhnen in der Altenpflege setzte die Politik zunächst 2013 auf die Einführung eines Mindestlohnes. Aber mit dieser untersten Auffanglinie ließ sich kein gerechtes Lohnniveau für die gesamte Mitarbeiterschaft in einer Branche herstellen. Die Löhne in der Altenpflege differieren weiterhin zwischen einem Lohnniveau der Caritas, das sich in der Nähe von Industrieberufen bewegt, und dem Durchschnitt anderer Anbieter, die ihren Beschäftigten mit Pflegefachqualifikation im Durchschnitt 300 Euro weniger als die Caritas zahlen. Bei Hilfskräften beträgt die Differenz gar 500 bis 900 Euro monatlich (Tarif Westdeutschland). Dabei handelt es sich um ein durchschnittliches Lohnniveau, das bei einzelnen Einrichtungen noch darunter liegen kann.

Als der Pflegenotstand sich weiter vergrößerte, wurde die Politik erneut tätig. Nun setzte sie auf einen allgemeinverbindlichen Tarif für die Altenpflege, der jedoch nur eine untere Grenze festlegen sollte. Um die Fiktion eines tariflichen Lohns in einem Marktmodells aufrecht zu erhalten, gründete die der SPD nahestehende Arbeiterwohlfahrt (AWO) mit anderen einen Arbeitgeberverband, der gerade einmal 70.000 Beschäftigte repräsentiert. Das sind lediglich sechs Prozent der 1,2 Millionen Beschäftigten in der Altenpflege. Die Gewerkschaft ver.di hat so wenige Mitglieder in der Branche organisiert, dass das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg angerufen wurde, um zu klären, ob die Gewerkschaft überhaupt tariffähig sei, da sie »keine Durchsetzungskraft in der Branche für sich in Anspruch nehmen kann« - so die Klageschrift. Der ausverhandelte Tarifvertrag einer durchsetzungsschwachen Gewerkschaft mit einem kleinen Arbeitgeberverband soll deshalb nur dann für die ganze Branche allgemeinverbindlich werden können, wenn Diakonie und Caritas zustimmen.

Erwartet wird also von den beiden kirchlichen Wohlfahrtsverbänden, die die höchsten Löhne zahlen, dass sie einem Tarifvertrag zustimmen, dessen Dynamik zur Absenkung ihrer eigenen Lohnkosten führen würde. An diesem Punkt sind die Bedenken der Caritas - bei aller berechtigten Kritik am Nein des Caritasverbandes - berechtigt.

Der grundsätzliche Konstruktionsfehler ist der Pflegemarkt, der die Pflege von Menschen und die Arbeitsbedingungen der Pflegenden zu einer Ware macht. Doch konstruiert wird ein Quasi-Markt, denn im Unterschied zur Krankenversicherung ist die Pflegeversicherung nicht als Vollversicherung, sondern als gedeckelter Zuschuss geregelt. Höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen führen deshalb zu steigenden Pflegesätzen. Diese werden an die Kostenträger und vor allem an die Pflegebedürftigen und deren Angehörige weitergegeben. Obwohl Tariflöhne laut Sozialgesetzbuch rechtlich »nicht als unwirtschaftlich abgelehnt werden« dürfen und deshalb refinanziert werden müssen, gibt es ein Interesse an niedrigen Löhnen in der Altenpflege. Die Streitfrage ist: Wer zahlt die Mehrkosten?

Die Kommunen haben als Sozialhilfebehörde kein Interesse an hohen Eigenanteilen, auch weil 36 Prozent der Bewohner von Pflegeheimen teilweise trotz lebenslanger Arbeit auf Sozialhilfe angewiesen sind, deren Eigenanteil die Kommunen zahlen müssen. Um diesen zu erstattenden Eigenanteil gering zu halten, bevorzugt sie die »billigeren« Heime, also jene mit niedrigeren Lohnniveaus.

Zwar hat das Bundessozialgericht in einer Vielzahl von Entscheidungen bestätigt, dass auch die höheren Tarife von Caritas und Diakonie refinanziert werden müssen. In einem Rechtsgutachten für den Bevollmächtigten der Bundesregierung für die Pflege aus dem Jahr 2019 haben die Rechtsanwälte Sascha Iffland und Alexander Wischnewski jedoch darauf verwiesen, dass das Bundessozialgericht zwar die Refinanzierung von tarifvertraglichen Vergütungsordnungen als wirtschaftlich betrachtet. Doch verbindliche Entscheidungen, die auch die Folgen bzw. Dynamiken kollektiver Vergütungsvereinbarungen berücksichtigen, liegen bislang nicht vor. Es ist eben nicht von der Hand zu weisen, dass sich Löhne auf dem Niveau des allgemeinverbindlichen Tarifvertrags einpendeln und wenig bis keinen Raum für eine bessere Entlohnung bleibt. Einer Einrichtung, die mehr bezahlen möchte, werden Pflegekassen entgegenhalten, dass eine Vergütung oberhalb eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrages nicht mehr angemessen sei.

Das oben erwähnte Rechtsgutachten stellt ausdrücklich klar: »Dies könnte insbesondere konfessionelle Träger treffen.« Damit deutet sich hier bereits an, dass Rechtsstreitigkeiten durch alle Instanzen zu erwarten sind, zumal die großen privaten Pflegeverbände seit langem angekündigt haben, dass sie sich nicht dem Diktat einer Allgemeinverbindlichkeitserklärung unterwerfen würden, das ihre Renditeerwartungen schmälern würde.

Die Sorge des Verbands katholischer Altenhilfe, der die Altenhilfe der Caritas betreibt: Bei einer Allgemeinverbindlichkeitserklärung könnte der höherwertige Tarif des Caritasverbandes »in der Refinanzierung das Nachsehen haben«. Die Einrichtungen müssten dann aus wirtschaftlichen Gründen Löhne absenken. Und genau hier liegt der Kern der gegenwärtigen Tarifauseinandersetzungen.

Die Idee einer Lohnfindung auf einem Quasi-Markt mit gedeckten Zuschüssen der Pflegeversicherung funktioniert von Anfang an nicht. Diesen Konstruktionsfehler nutzen private Pflegekonzerne und zunehmend auch fachfremde Konzerne wie Amazon oder Walmart, aber auch Private-Equity-Gesellschaften aus, wie Lucy Redler in einer neuen Studie für die Rosa-Luxemburg-Stiftung ausgeführt hat. Ihr Geschäftsmodell besteht darin, die Einrichtungen der Altenpflege systematisch auf Rendite zu trimmen, indem Personalkosten eingespart werden. »Zweistellige Renditen für Finanzinvestoren und Kapitalgesellschaften - das ist nicht die Idee einer sozialen Pflegeversicherung«, erklärte Gesundheitsminister Jens Spahn in der »Zeit«. Allerdings hat er keineswegs vor, sich von der marktförmigen Grundkonzeption der Pflege zu verabschieden.

In einem Entwurf für ein neues Gesetz zur Verbesserung der Löhne in der Pflege soll künftig der Maßstab für die Vergütung in der Altenpflege nicht mehr ein Tarifvertrag sein, sondern nur noch die von den kommerziellen Trägern über Jahre nach unten gedrückte »ortsübliche Entlohnung«. Was der Gesundheitsminister hier eine Reform nennt, entpuppt sich als ein Verfahren, um die Löhne weiterhin auf niedrigem Niveau zu halten. Darüber hinaus ist diess inmitten der Pandemie ein Frontalangriff auf die Tarifautonomie und den Flächentarifvertrag im Pflegebereich.

Wenn es eine Lehre aus der Coronakrise gibt, dann ist es die: Pflege marktförmig zu gestalten ist ein Irrweg. Dieses Konstrukt hat von Anfang an nicht funktioniert. Pflege ist keine Ware; sie ist ein soziales und öffentliches Gut. Deshalb haben private Träger und multinationale Konzerne und Private-Equity-Gesellschaften, die Gewinnabsichten verfolgen, in der Pflege nichts zu suchen. Die Kosten, die aufgrund guter Arbeit und guter Arbeitsbedingungen entstehen und plausibel sind, sind zu erstatten. Pflege gehört in die Trägerschaft der Kommunen und der Freien gemeinnützigen Träger.

Was ist zu tun? Die Pflegeversicherung leidet unter einem entscheidenden Konstruktionsfehler, nämlich unter einem marktförmigen Wettbewerb, der allein über Löhne und Arbeitsbedingungen geführt wird. In der »alten« Sozialen Marktwirtschaft hatte die Politik die Aufgabe, »Marktpolizei« (Rüstow) zu sein, die verhindert, dass der Markt in Bereiche übergreift, wo er nichts zu suchen hat. Eine »kapitalistische Landnahme« (Rosa Luxemburg) hat die Pflege zu einem Profitcenter für Konzerne und private Anbieter gemacht.

Die Politik muss sich entscheiden, ob die Pflege von Menschen bedarfsgerecht zu gestalten ist oder eine Gelegenheit ist, um Gewinne zu generieren. Auch die Träger müssen sich von der Idee verabschieden, in einem Wettbewerb der Tarifwerke bestehen zu können. Eine gute Ordnung des Pflegesektors braucht einen Branchentarifvertrag, der mehr regelt als nur eine unterste Auffanglinie. Gesetzlich muss festgelegt werden, dass nur mit solchen Trägern Versorgungsverträge abgeschlossen werden dürfen, die einen paritätisch ausgehandelten Flächentarifvertrag vorweisen. Die Refinanzierung von guten Löhnen und guten Arbeitsbedingungen muss gesichert sein. Außerdem muss wie in den Krankenhäusern der Kampf gegen die Fallpauschalen auch der Kampf gegen die Minutenpflege intensiviert werden. Denn diese ist insbesondere für die privaten Anbieter wie geschaffen, um Gewinne machen: Was schneller geht, erhöht den Gewinn.

Altenpflege darf weder ein Profitcenter sein noch Gelegenheiten zur Gewinnerwirtschaftung bieten. Die Privatisierungs- und Ökonomisierungstendenzen müssen zurückgenommen werden. Das Gesundheitswesen muss wieder zu einer öffentlich finanzierten sozialen Infrastruktur werden, die den Prinzipien der Gemeinwohlökonomie verpflichtet ist, welche die Marktkräfte ethisch einhegt. Ziel muss eine solidarisch finanzierte Vollversicherung in der Pflege sein.

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