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Ungültige Denkzettel
Ecuador wählt, doch ein politischer Neustart ist nicht im Angebot. Von Knut Henkel
In der Stichwahl in Ecuador am 11. April stehen sich wie so oft ein linker und ein rechter Kandidat gegenüber: Andrés Arauz triff auf den neoliberalen Guillermo Lasso. Doch über der Abstimmung schwebt die Kampagne «Voto Nulo», für die Yaku Pérez steht. Der indigene Präsidentschaftskandidat lag nach der ersten Runde lange an zweiter Stelle, bevor er von den beiden Konkurrenten ausgebootet wurde - weil er für ein anderes politisches Modell steht, argumentiert Ecuadors neue umweltsensible Linke. Sie will den beiden Kandidaten für die Präsidentschaft über Wahlenthaltung, zu der unter anderem Yaku Pérez aufgerufen hat, einen Denkzettel verpassen.
Schon im ersten Wahlgang am 7. Februar wählten rund eine Million Wählerinnen ungültig. Beim zweiten Wahlgang am kommenden Sonntag könnte der Anteil der ungültigen Stimmen deutlich steigen, hofft Alberto Acosta. Der ehemalige Präsident der Verfassunggebenden Versammlung und international bekannte Nachhaltigkeitstheoretiker ist sich sicher, dass bei der Stimmauszählung der Ergebnisse des 1. Wahlgangs nicht alles mit rechten Dingen zugegangen ist. «Genau deshalb läuft landesweit eine Kampagne, ungültig zu wählen, die von indigenen Organisationen, umweltpolitischen Netzwerken und einer neuen Linken unterstützt wird», so der 73-Jährige.
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Bei einer massiven Stimmenthaltung wäre theoretisch auch die Annullierung der gesamten Wahl denkbar. Denn das sieht die Wahlgesetzgebung vor, sollten die ungültigen Stimmen die Zahl derjenigen übertreffen, die für Arauz und Lasso abgegeben werden. Für Acosta wäre das ein «kaum realistisches Wunschergebnis». Sein Vorwurf an die Kandidaten: «Ich bin der Meinung, dass Yaku Pérez von der indigenen Partei Pachakutik eine neue politische Option, eine Herausforderung für den politischen Status quo in Ecuador darstellt und genau deshalb von Arauz und Lasso blockiert wurde. Gemeinsam haben sie die Neuauszählung der Urnen verhindert.»
Acostas Vorwurf ist wenige Tage vor dem Urnengang am Sonntag landesweit zu hören, und in den Redaktionen des Landes wird auch recherchiert, wie hoch der Anteil ungültiger Stimmen in der Vergangenheit war. Maximal zwölf Prozent waren es bisher. Würden 15 Prozent der rund 13 Millionen Wahlberechtigten ungültig wählen, wäre das für Acosta beachtlich. 20 Prozent hätten Signalcharakter und alles darüber hinaus revolutionäres Potenzial.
Unstrittig ist, dass jede ungültige Stimme den potenziellen Sieger, ob Andrés Arauz oder Guillermo Lasso, Legitimität kosten würde. Der zukünftige Präsident Ecuadors steht ohnehin vor einer historischen Aufgabe. Die Wirtschaft steckte schon vor der Corona-Pandemie in der Krise, ihre Leistung ist 2020 laut dem Finanzministerium um 7,8 Prozent eingebrochen.
Auch im sozialen Bereich hat die Pandemie das Land um Jahre zurückgeworfen, so Juan Cuvi, Direktor der Stiftung Donum aus der drittgrößten Stadt des Landes, Cuenca. «Ecuador steckt in einer multiplen Krise: einer politischen, einer sozialen, einer ethischen und über allem schwebt das Gespenst der grassierenden Korruption.» Das belegen auch harte Fakten des Nationalen Statistikinstituts (INEC): So sei die Schere zwischen Arm und Reich wieder so breit wie 2010. Dazu passt, dass die Zahl der offiziell gemeldeten Arbeitslosen auf derzeit 5,7 Prozent klettert und jene der Unterbeschäftigten auf 23 Prozent. Alarmierende Ziffern, denn im Februar waren nur noch 33 Prozent der Erwerbstätigen sozialversichert angestellt - acht Prozent weniger als im Dezember 2018.
Die Zahlen illustrieren eine Entwicklung, die der noch amtierende Präsident Lenín Moreno stoppen wollte: das Fortschreiten der Armut. Laut INEC gilt jede dritte Person als arm, in den ländlichen Regionen sogar jede zweite. Ds ist ein politischer Offenbarungseid der Regierung Moreno, die mit vielen Versprechen angetreten ist, aber vor allem für den Rückbau der sozialen Infrastruktur verantwortlich gemacht wird, so Juan Cuvi. «Sie haben die massiven Proteste vom Oktober 2019 hervorgerufen - gegen den mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) abgestimmten Sparkurs der Regierung Moreno.»
Der Widerstand gegen den Sozialabbau wurde von der indigenen Bewegung in der ersten Reihe mitgetragen. Deren wichtigste Organisationen, der Dachverband Conaie und die politische Partei Pachakutik, haben ganz offen zum Voto Nulo«, zum ungültig Wählen, aufgerufen. Das könnte Wirkung zeigen, so Cuvi. Allerdings weiß auch er, dass die indigene Bewegung nicht einheitlich auftritt. Dafür steht die Ankündigung des Conaie-Vorsitzenden Jaime Vargas, für Andrés Arauz zu stimmen.
Für die Stichwahl werben sowohl Arauz als auch Lasso um das Wahlklientel von Yaku Pérez. Auch dessen Forderungen nach neuen politischen Parametern lassen sich nicht einfach ignorieren. Pérez' Nein zur Rohstoff-Förderpolitik tragen beide jedoch nicht mit. Sowohl Lasso als auch Arauz sollen sich bereits im Kontakt mit dem IWF befinden. Ihr Anliegen: Kredite gegen künftige Rohstofferlöse. »Das deutet auf ein ›Weiter so‹ hin, und genau das lehnt eine neue politische Linke in diesem Land ab«, sagt Acosta.
Die Stichwahl wird auch durch die seit Ende Februar wieder steigenden Corona-Infektionszahlen überschattet. Laut Gesundheitsministerium zählt das Land über 335 000 Infizierte, mehr als 17 000 Tote wurden registriert. Erneut steht das Gesundheitssystem vor dem Kollaps, so Cuvi, und deshalb hat die Regierung Moreno in acht Provinzen, darunter die Hauptstadt-Provinz Pichincha, erneut den Ausnahmezustand verhängt.
Auch für Cuvi ist unstrittig, dass jede ungültige Stimme eine Stimme gegen die etablierten Kandidaten ist. »Weder Arauz noch Lasso stehen für einen politischen Neuanfang. Doch den brauchen wir in Ecuador - früher oder später.«
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