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Zu Minsk gibt es keine Alternative
Martin Sajdik erklärt, warum die Ukraine und Russland weiter miteinander sprechen müssen
Sie haben den ukrainisch-russischen Konflikt diplomatisch begleitet wie kein anderer. Jetzt eskaliert die Lage an der Front, Russland sammelt Truppen an der Grenze. Was passiert da gerade?
Wie immer gibt es nicht nur einen Grund für diese Entwicklungen, sondern viele Gründe. Das ist ein Gesamtbild. Die Hauptpriorität Russlands derzeit ist Belarus, wo es mit seinen Wünschen und Vorstellungen bereits weit gekommen ist. Das bezieht sich auf wirtschaftliche, vor allem aber auf militärische Aspekte. Belarus Grenze mit den drei EU-Staaten Polen, Litauen und Lettland hat eine Länge von über 1200 Kilometer, mit Ukraine von circa 1100 Kilometer. Am 16. Februar veröffentlichte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba einen Beitrag in der angesehenen Washingtoner Denkfabrik »Atlantic Council« unter dem vielsagenden Titel »Why is Ukraine still not in Nato?« (Warum ist die Ukraine immer noch nicht in der Nato?). Auch der ukrainische Präsident Selenskyj sprach dieser Tage dieses Thema an. Seit dem Nato-Gipfel 2008 gibt es in Sachen Nato-Mitgliedschaft der Ukraine keine wesentlichen Entwicklungen. Wie erinnerlich, reiste der russische Präsident Putin damals in die rumänische Hauptstadt und intervenierte persönlich und aus seiner Sicht bislang erfolgreich gegen jegliches Zugeständnis an die Ukraine.
Martin Sajdik, 72, ist österreichischer Diplomat und fungierte bis 2020 als Chefvermittler der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bei den Friedensgesprächen in Minsk. Im Jahr 2019 legte er den nach ihm benannten Sajdik-Plan vor, der den festgefahrenen Friedensprozess durch die Einbeziehung der Uno retten sollte. Kurz darauf endete nach insgesamt fünf Jahren Sajdiks Amtszeit. Stefan Schocher sprach mit ihm über die jüngste Zuspitzung des Konflikts in der Ostukraine, Russlands Motive und Kiews Erwartungen sowie die Alternativlosigkeit von Verhandlungen.
Jetzt gab es unter Präsident Selenskyj große Zugeständnisse der ukrainischen Seite: Gefangenenaustausche, den Waffenstillstand; man hat die Steinmeier-Formel akzeptiert, die von der OSZE kontrollierte Wahlen in den Separatistengebieten vorsieht, in deren Folge der dauerhafte Sonderstatus von Luhansk und Donezk in der ukrainischen Verfassung verankert werden soll. Wieso reicht das nicht?
Tatsächlich kam die Ukraine Russland und den von ihm unterstützten sogenannten Separatisten entgegen und vermisst - abgesehen vom Gefangenenaustausch - adäquate Gegenleistungen. In den schon über sechs Jahre dauernden Verhandlungen über die Umsetzung der im Februar 2015 erzielten Vereinbarungen gibt es kaum Annäherung. Darin steht in etwa, dass im Rahmen der Dezentralisierung des Landes nach Kommunalwahlen in »bestimmten Gebieten der Regionen von Donezk und Lugansk« und deren Anerkennung durch die OSZE ein Sonderstatus in Kraft tritt. Am Tag danach beginnt - so die Minsker Vereinbarungen weiter - die volle Kontrolle der Ukraine über die Staatsgrenze im gesamten Konfliktgebiet. Sprich: die Ukraine übt wieder die Souveränität auf ihrem gesamten Staatsgebiet aus. Über Details dieses Übergangs der Kontrolle wurde nie geredet. Russland gibt zu verstehen, dass es erst den Sonderstatus geben muss, dann kann über Weiteres gesprochen werden. Offen bleibt, wie die Rada, das ukrainische Parlament, unter diesen Voraussetzungen ein Gesetz über einen Sonderstatus annimmt, wenn niemand sagen kann, was nach Inkrafttreten passiert. Nicht zu reden von Anpassungen der Verfassung. Die Ukraine verlangt nun, dass sie schon vor den Wahlen die Kontrolle über die Grenze erhält. Das mag zwar nachvollziehbar erscheinen, steht in den Minsker Vereinbarungen so aber nicht drin. Und das ist jetzt der Vorwand, um Kiew einen Minsk-Verstoß vorzuwerfen. So geht das die ganze Zeit.
Sind die politischen und diplomatischen Werkzeuge zur Kontrolle dieses Konfliktes denn dazu geeignet, ihren Zweck zu erfüllen? Stichwort: OSZE, trilaterale Kontaktgruppe. Sind diese Formate am Ende?
Das ist ein weiterer Aspekt dieses Konfliktes und der aktuellen Entwicklung: Russland forciert in letzter Zeit sein Narrativ, keine Seite in diesem Konflikt zu sein, es sei vielmehr Vermittler. Moskau spricht von einem innerukrainischen Konflikt, der insgesamt nur im direkten Dialog zwischen Kiew einerseits und Donezk sowie Lugansk beigelegt werden könne. Auch das steht so nicht in den Minsker Vereinbarungen. Russland pocht darauf, dass ausschließlich die »Separatisten« die ebenbürtigen Partner in allen Verhandlungspunkten sind und lässt nichts unversucht, dass sich die Ukraine diesem Narrativ fügt.
Fällt diese Minsk-Konstruktion gerade zusammen?
Nein, das denke ich nicht. Das kann sich keine Seite erlauben. Besonders schwierig ist, dass die Verhandlungen nur per Video und nicht mehr persönlich stattfinden. Ich beneide meine Nachfolgerin, Heidi Grau, nicht. Sie leistet unter den gegebenen Umständen Heroisches! Die Ukrainer sprechen nun davon, nicht mehr nach Minsk zurückzukehren (weil Minsk aus Kiewer Sicht kein neutraler Boden mehr ist, Anm.). Alle »europäischen Varianten« - Polen ist im Gespräch, Wien und auch Italien - haben aber das Problem, dass auf russischer und Separatisten-Seite Leute kommen würden, die auf der EU-Sanktionsliste stehen. Die andere Idee war, nach Astana/Kasachstan zu gehen. Das ist aber nicht machbar, zu lange Anreise für einen Sitzungsrhythmus mit zwei Treffen pro Monat. Vielleicht Chisinau in Moldawien?
Was ist diese Eskalation jetzt? Ist das ein Austesten der neuen US-Administration?
Erinnern wir uns: Die USA forcierten nach dem Zerfall der UdSSR den Kampf für die Non-Proliferation von Atomwaffen. Sie konnten die Ukraine als damals dritter Atommacht der Welt, aber auch Belarus und Kasachstan davon überzeugen, auf die auf ihrem jeweiligen Territorium vorhandenen Arsenale vollständig zu verzichten. Dies wurde im Budapester Memorandum vom 5. Dezember 1994 fixiert, unterzeichnet von den Atommächten USA, Großbritannien und Russland. Als Gegenleistung wurden Souveränität und die Achtung der bestehenden Grenzen festgeschrieben. In den Augen so manchen Ukrainers ließ die Obama-Administration ihr Land 2014 bei den Verlusten der Krim und von Teilen des Donbass im Regen stehen. Und dann kam Trump… Wer hat ihrem darniederliegenden Land nach Sicht vieler Ukrainer tatsächlich geholfen? Allen voran - Angela Merkel und in ihrem Schlepptau Frankreich. Sie schufen das Normandie-Format, in dem nur Russland gemeinsam mit der Ukraine sitzt, ohne Separatisten, aber dafür eben Deutschland und Frankreich. Natürlich hofft man in Kiew darauf, dass Biden versteht, dass da noch einiges gutzumachen wäre.
Was hat die EU denn letztlich in der Hand im Umgang mit Russland?
Die Sanktionen, Reisebeschränkungen und Finanzsperren - die sind weitaus effektiver, als uns die russische Propagandamaschine glauben lässt. Soweit man das derzeit sehen und beurteilen kann, sind weitere Sanktionen derzeit noch kein Thema. Die Frage stellt sich noch nicht und wird sich hoffentlich nicht stellen.
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