Wenn die Werte fallen

Sahra Wagenknecht sucht einen starken Nationalstaat ohne störende Lifestyle-Linke

Für Sahra Wagenknecht hat die rechte Propaganda einen »wahren Kern«, wie sie in ihrem neuen Buch schreibt: »Die westlichen Demokratien funktionieren nicht mehr.« Denn: »Die Interessen der Beschäftigten mit einfachen und mittleren Bildungsabschlüssen sowie der abstiegsbedrohten klassischen Mittelschicht kommen seit Jahren unter die Räder. Starke Wirtschaftslobbys haben weit mehr Einfluss auf die Politik als normale Bürger.« Es sieht nicht gut aus. Doch Wagenknecht hat ein »Gegenprogramm - für mehr Gemeinsinn und Zusammenhalt« entworfen, das sie in ihrem neuen Buch »Die Selbstgerechten« vorstellt. Denn sie ist ja nicht nur eine der bekanntesten Politikerinnen der Linkspartei, sondern auch promovierte Volkswirtin.

Dieses »Gegenprogramm« richtet sich gegen »Wirtschaftsliberalismus, Globalisierung und Sozialabbau« - für Wagenknecht die drei Hauptprobleme der Gegenwart, die sie immer wieder wie in einer pädagogischen Ansprache einflicht, das man sie auch ja nicht vergisst. Ihr »Gegenprogramm« ist geradezu ganzheitlich angelegt. International soll es die »Marktdynamik« bändigen, das »Steuerdumping« der Konzerne beenden, die Macht der Finanzwirtschaft zurückdrängen, Abrüstung herbeiführen und die Ausbeutung des Globalen Südens beenden. Hierzulande sollen neue Arbeitsplätze geschaffen, höhere Löhne ermöglicht, die Immobilienpreise gesenkt und der Sozialstaat aus- statt abgebaut werden. Der öffentliche Sektor soll wieder stärker und die Wissenschaft freier werden. Krankenhäuser und Altenheime dürfen nicht unter Druck geraten, sie sollen keine Rendite erwirtschaften müssen. Und der viel diskutierte »Überwachungskapitalismus« der Internetkonzerne soll auch noch bekämpft werden, »indem wir die Speicherung individueller Daten per Gesetz verbieten«.

Die klassisch linke Frage nach den Eigentumsverhältnissen ist für Wagenknecht nachrangig, sie klingt manchmal an, etwa wenn sie nebenbei bemerkt, es gehe nicht darum, die »heutige Verteilung von Eigentum und Vermögen für sakrosankt zu erklären«. Es geht ihr mehr um eine Art Fairplay-Kapitalismus, den sie gerne im Sinne der Ordoliberalen statt der Wirtschaftsliberalen, die heute den Ton angeben, geordnet sähe. Denn Ordoliberale wie Walter Eucken oder Alexander Rüstow hätten das »Konzept einer Marktwirtschaft ohne Konzerne« verfochten. Man mag diesen Ansatz für etwas romantisch halten, doch für das bestehende, wirtschaftsliberal orientierte Wirtschaftssystem besitzt er genügend reformistische Sprengkraft, um das Leben der Lohnabhängigen grundsätzlich zu verbessern.

Garant hierfür ist ein starker Staat. Selbstverständlich kann man einen solchen nicht wie ein kommerzielles Unternehmen führen, er soll sich nicht am »Markt« beweisen, sondern im Gegenteil diesen regulieren. Nach Wagenknecht ist ein schwacher Staat ein teurer Staat, wenn etwa durch permanente Einsparungen unterfinanzierte Behörden ihre Aufgaben an private Dienstleister outsourcen, die dafür hohe Preise verlangen. Wagenknecht glaubt weiterhin an die Macht des Nationalstaats, der schon von verschiedenen politischen Seiten für tot erklärt wurde. Tatsächlich ist der Nationalstaat ja auch viel stärker, als oft behauptet wird, man muss sich nur das protektionistische Wirken der USA oder Chinas ansehen - mitten im angeblich freien Welthandel. Wagenknecht glaubt nicht an eine künftige gerechte »Weltregierung«, vorbereitet durch EU und Uno, sondern an wirtschaftliche »Deglobalisierung« und - zumindest für Europa - an eine Konföderation starker Nationalstaaten.

So weit, so materialistisch. Die ideologische Begründung von Wagenknechts »Gegenprogramm« ist allerdings haarsträubend. Denn wer ist daran schuld, dass die kapitalistische Dauerkrise wenn nicht beseitigt, so doch zumindest nicht gedämpft werden kann? Die sogenannten Lifestyle-Linken, die immer nur an sich selber denken. Und zwar seit 1968, als ihre Wortführer, die laut Wagenknecht »in erster Linie wohlhabende Bürger- und Großbürgerkinder« gewesen seien, sich vom Leistungsgedanken, im Prinzip der Idee vom »Schaffe, schaffe, Häusle bauen«, als zu spießig und repressiv abgewandt hätten.

Für Wagenknecht kam »die Kritik an ›Leistungsfanatismus‹ und ›Strebertum‹ (…) traditionell von den privilegierten Schichten«, die nichts mehr verachtet hätten als soziale Aufsteiger, weil sie sich durch sie bedroht fühlen würden, ihnen etwas von ihrem Wohlstand abgeben zu müssen. Dabei seien die »einfachen Leute« doch auf nichts mehr stolz als auf ihre »eigene Leistung.« Wagenknecht entwirft hier ein Handwerker-Ethos mit Werten wie »Disziplin, Fleiß und Anstrengung«, das sie der Glückssuche der Lifestyle-Linken entgegenhält - ganz so, wie die Springer-Presse 1968 auf die Studentenbewegung reagierte.

Und ganz so, wie die Konservativen seit Jahrzehnten einen Verfall der Werte bejammern und die Bundesrepublik von links-gesteuerten Medien beeinflusst sehen, beklagt sich auch Wagenknecht über die Allmacht eines Linksliberalismus, den sie am liebsten »Linksilliberalismus« nennen würde, weil er intolerant sei, die allgemeine Moral ruiniere und die Gesellschaft spalte. Ihm werden die üblichen Vorwürfe angedichtet: Sprachpolizei, Genderwahn und Fleischverbot. Man könne nicht mehr sagen, was man denkt, und nicht mehr essen, was man will.

Der Werteverfall regiert also und verwirrt die »einfachen Leute«. Er wird gesteigert durch die berühmt-berüchtigte »Identitätspolitik«, die sich durch die macht- und sprachkritische Philosophie von Michel Foucault und Jacques Derrida seit den 70er Jahren über den Umweg US-amerikanischer Elite-Unis entwickelt habe. Laut Wagenknecht laufe sie darauf hinaus, »das Augenmerk auf immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten zu richten, die ihre Identität jeweils in irgendeiner Marotte finden, die sich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden und aus der sie den Anspruch ableiten, ein Opfer zu sein«.

Es hat etwas Närrisches, so die Geschichte der neuen sozialen Bewegungen der 70er Jahre, von Feminismus über Ökologie bis zur Homosexuellen-Emanzipation, oder zumindest deren historische Ergebnisse zusammenfassen zu wollen. Am schönsten aber ist ihr Beispiel für die angeblich um sich greifenden Vorwürfe der »Mikroaggression«: »Wenn ein weißer Student mit einem schwarzen Tennis spielt und ihm am Ende Respekt für seine starke Rückhand zollt, kann der Belobigte das als Kränkung werten, weil mit der Hervorhebung ja gemeint sein könnte, das Schwarze ansonsten eher schlecht Tennis spielen«. Hat man so etwas schon mal gehört?

Wagenknechts Aversion gegen die Lifestyle-Linken als die »Selbstgerechten« wird verständlicher, wenn man bedenkt, was sie für die sozusagen goldene Zeit der alten Bundesrepublik mit starken Gewerkschaften und starkem Sozialstaat hält: die 70er Jahre unter den SPD-Kanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt. Und dann kamen Margaret Thatcher und Ronald Reagan, förderten den Neoliberalismus und zerstörten das »Modell Deutschland«, dessen sich Helmut Schmidt auf Wahlplakaten rühmte.

Was Wagenknecht nicht erwähnt: Insbesondere das kalte technokratische Politikverständnis von Schmidt stieß damals nicht nur ihren heutigen Ehemann ab, sondern sorgte auch für den Durchbruch der Ökologiebewegung und somit für den langfristigen Aufstieg der Grünen und ihres Prinzips des durchaus innovativ gemeinten »Think global, act local«. Dem sich ja auch Wagenknecht nicht verschließen kann und will, wenn sie nebenbei eine angenehme Liberalisierung des Alltagslebens in Fragen der Erziehung, der Ernährung oder der Sexualmoral begrüßt.

Doch sie braucht den Popanz der Lifestyle-Linken, um auf eine ganz besondere »Lücke« im politischen Diskurs, den sie »politisches System« nennt, hinzuweisen, die die Rechten füllen würden, wenn sie »Globalisierung oder Migration« thematisieren. Dafür müssten sich die Lifestyle-Linken nicht interessieren, weil sie gute Jobs und gute Wohnungen hätten (auch wenn immer mehr von ihnen prekarisiert arbeiten, wie sie einräumt) und nicht mit den Geflüchteten um Billigjobs und Wohnraum konkurrieren. Wagenknecht will sie nicht rauswerfen, aber sie legt schon Wert darauf, dass es Leute gibt, die in Deutschland zuerst da waren - und die nun teilweise verstärkt rechts wählen, weil sich keiner um sie kümmern würde. Und von »Heimat« dürften sie auch nicht sprechen, obwohl gefühlt jede zweite ZDF-Serie dieses Wort im Titel führt.

Ja, sie meint sogar feststellen zu müssen, dass »die wichtigste Ursache der politischen Rechtsentwicklung (...) das Versagen der linksliberalen Linken« sei. Die Linken sind also schuld an den Rechten. Aus Gründen des Hedonismus und der Sprachmoral. Auf der letzten Seite ihres Buchs schreibt Wagenknecht: »Persönliche Lebensstile sind Privatsache und sollten nicht länger politisiert werden.« Dem ist zuzustimmen.

Sahra Wagenknecht: Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm - für Gemeinsinn und Zusammenhalt. Campus, 346 S., geb. 24,95 €.

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