Segel setzen und Kanonen bereit

Nicht allein Deutschland rüstet seine Marine auf - es geht um Handelsrouten und militärische Kontrolle. Über den Begriff der Seemacht im 21. Jahrhundert.

  • Hermannus Pfeiffer
  • Lesedauer: 6 Min.

Deutschland ist eine Seemacht. Diese Tatsache wird selbst an der Waterkant kaum wahrgenommen. Die deutsche Containerflotte ist eine der größten auf den Ozeanen, einer von drei Frachtern des globalen Handels wird von hiesigem Kapital finanziert. Der Hamburger Hafen ist einer der größten der Welt und hat traditionsreiche Umschlagplätze wie London, Tokio oder New York weit hinter sich gelassen. Und in Duisburg pulsiert der weltweit größte Binnenschiffhafen.

Der deutsche Schiffbau, eine Hightech-Branche auf Augenhöhe mit der Luft- und Raumfahrtindustrie, ist bei milliardenschweren Kreuzfahrtschiffen, U-Booten und Luxusjachten in Europa führend. Erfolgreich sind nicht allein Werften, sondern auch Zulieferer wie MAN, Siemens oder die Mecklenburger Metallguss, die weltweit die Mehrzahl aller großen Schiffe mit Motoren, Elektronik und Propeller ausrüsten.

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Neben diesen vielfältigen maritimen Interessen ist der Export-Vizeweltmeister Deutschland zugleich auch abhängig von einem reibungslosen Seeverkehr, über den mehr als 90 Prozent des Welthandels abgewickelt werden. Wie sich die Abhängigkeit der Versorgung Deutschlands mit Rohstoffen, Smartphones oder tiefgefrorenen Erdbeeren auswirkt, zeigte uns die Aufregung um den Stau vor dem Suezkanal, in dem kürzlich der Superfrachter »Ever Given« quer lag und damit ein Nadelöhr des Welthandels blockierte.

Seeflotte als Machtfaktor

Handel und Seemacht hängen seit Jahrhunderten eng zusammen. »Segel und Kanonen«, so der Wirtschaftshistoriker Carlo M. Cipolla in seinem wegweisenden gleichnamigen Buch, waren die Basis der europäischen Expansion in Amerika, Asien und Afrika, die erst mit dem Niedergang des britischen Empire nach dem Ersten Weltkrieg endete. Und auch die folgende Supermacht, die Vereinigten Staaten, verdankten ihren Aufstieg einer starken Flotte.

So prägend wie der deutsche Militärstratege Carl von Clausewitz für sogenannte Landmächte war, wurde es der amerikanische Admiral Alfred Thayer Mahan (1840-1914) für kleine und große Seemächte. Sein Hauptwerk »Der Einfluss der Seemacht auf die Geschichte« galt als Lieblingslektüre von Kaiser Wilhelm II. Dessen ehrgeiziges Flottenprogramm sollte das Deutsche Reich zur Seemacht Nummer eins aufsteigen lassen, provozierte Britannien und trug seinen Teil zum Ausbruch der »Urkatastrophe« des 20. Jahrhunderts bei: des Ersten Weltkriegs.

Dass das Thema Seemacht auch im 21. Jahrhundert von größter Bedeutung für jeden Staat ist, versucht ein Werk aus dem Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam zu verdeutlichen. »Das Wesen von Seemacht« ist über weite Strecken ein beeindruckendes Buch, das die politischen Implikationen der für »Landratten« eher unsichtbaren Institution der Marine anschaulich macht.

Nato und EU, USA und Russland und die - auch geopolitisch aufstrebende - VR China haben für sich »strategische Handlungsfelder« definiert. Diese bewegen sich zwischen zwei Polen: einerseits die völkerrechtlich anerkannte »Freiheit der Meere« für Handel und Schifffahrt, anderseits das Bemühen, die ebenfalls völkerrechtlich akzeptierte »ausschließliche Wirtschaftszone« zu sichern oder auszubauen, die bis zu 200 Seemeilen ins Meer hineinreicht. In diesem Spannungsfeld streiten sich beispielsweise die Nato-Partner Türkei und Griechenland um Energieressourcen im östlichen Mittelmeer.

Die VR China, Taiwan, Japan, Südkorea, die Philippinen, Malaysia, Brunei, Indonesien und Vietnam beanspruchen teilweise dieselben Seegebiete und Inseln im Pazifik. Und der Klimawandel hat unter anderem in den USA und in Russland frisches Interesse an der Arktis erweckt. Solche geopolitischen Ansprüche bedingen die Aufrüstung aller bedeutenden nationalen Flotten, begleitet von einer Modernisierung - Stichworte: Cyberattacken, elektromagnetisches Spektrum, Schwarmangriffe unbemannter Systeme.

Nun zielt moderne Seemacht ohnehin nicht mehr auf koloniale Kreuzerkriege und entscheidende einzelne Seeschlachten. Der Schlüsselbegriff in Militär- und Politikwissenschaft lautet heute »Machtprojektion«, und dafür ist die Marine in einer globalisierten Welt geschaffen wie kein anderer Teil der Streitkräfte.

Drei Viertel der Erdoberfläche sind mit Wasser bedeckt, deshalb kommen Fregatten und U-Boote - im Gegensatz zur Luftwaffe, die außerhalb der Heimat ständig Überflugrechte von betroffenen Ländern benötigt - nahezu überallhin. Selbst in den ausschließlichen Wirtschaftszonen oder in Meerengen wie dem türkischen Bosporus gilt die »Freiheit der Meere« (jedenfalls in Friedenszeiten).

Nato-Missionen im Mittelmeer, der Kampf gegen Piraten vor der Westküste Afrikas oder der Flottenbesuch im Schwarzen Meer dienen so auch der Deutschen Marine zur Projektion von deutscher politischer und wirtschaftlicher Macht. Hierzu wird die Bundeswehr seit einiger Zeit wieder von der Bundesregierung »ertüchtigt«.

Deutsche Aufrüstung nach 1990

Die Zahl der ursprünglich für die Kriegführung in der Ostsee vorgesehenen Schiffe hatte nach 1990 drastisch abgenommen. Dutzende Einheiten wurden verschrottet oder an drittklassige Marinen ärmerer Staaten verkauft. Nach der Einnahme der Krim durch Russland im Jahr 2014 änderte sich die Lagebeurteilung erneut. »Wir müssen wieder wachsen!« - mit diesen Worten leitete die damalige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) eine Trendwende der Mittelmacht Deutschland ein. Seither verfolgt die deutsche Politik das Ziel, die Marine materiell, personell und finanziell besser auszustatten.

Der offizielle Auftrag der Deutschen Marine umfasst heute den Schutz maritimer Handels- und Transportwege sowie die Kontrolle definierter Seegebiete. Dabei wird der Radius, den deutsche Kriegsschiffe abdecken, immer größer. So wird Deutschland im Sommer erstmals eine Fregatte in den Indopazifik entsenden, in Kooperation mit Marinen »befreundeter« Staaten. Japan etwa hat in der zweiten Aprilwoche 2021 gemeinsame Übungen vorgeschlagen, was als klares Signal an angrenzende Staaten zu verstehen ist.

Das Auswärtige Amt hatte im August 2020 erstmals »Leitlinien zum Indo-Pazifik« herausgegeben, die alte Asien-Konzepte ersetzen sollen. »Dabei will die Bundesregierung die tektonischen Machtverschiebungen durch den Aufstieg Chinas als neue globale Wirtschafts- und Militärmacht berücksichtigen«, schreibt das Fachblatt »Europäische Sicherheit und Technik«. Zugleich definieren die Leitlinien die veränderten Interessen der Wirtschafts-, Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands und der EU in diesem Raum neu. »Das Wesen von Seemacht« gestattet tiefe Einblicke in das durchaus mehrdimensionale maritime Denken nicht allein deutscher Militärs.

Machtprojektion benötigt Machtmittel. Bis 2030 wird die deutsche Marine jedes Jahr mindestens ein neues Schiff erhalten, erklärte der kürzlich in den Ruhestand getretene Inspekteur der Marine Andreas Krause. Darunter sind neue Hochtechnologie-Fregatten vom Typ F125 zum Stückpreis von knapp einer Milliarde Euro, die - wie die neuen Korvetten, die für den globalen Einsatz in Küstenregionen vorgesehen sind - zwei Jahre lang in ausländischen Territorien kreuzen können. Außerdem hat die deutsche Flotte erstmals seit 1945 wieder »Wirkmittel«, um Landziele zu bekämpfen. (Übrigens liegen sechs von zehn Megastädten in Küstennähe.)

Im vergangenen Jahr vergab das deutsche Verteidigungsministerium einen Auftrag für das neu entwickelte Mehrzweck-Kampfschiff 180. Dieses soll aus verschieden Modulen je nach Auftrag neu zusammengesetzt werden. Die Kosten für zunächst vier Kriegsschiffe liegen bei über fünf Milliarden Euro, was Admiral Andreas Krause höflich kommentierte: »Für die Bereitstellung der notwendigen finanziellen Mittel möchte ich dem Bundestag ausdrücklich danken.«

Torsten Albrecht, Carlo Masala und Konstantinos Tsetsos: Das Wesen von Seemacht. Die internationalen Beziehungen im maritimen Umfeld des 20. und 21. Jahrhunderts. Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, 454 S., br., 15 €.

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