- Kommentare
- Mietendeckel
Der gesellschaftliche Gesamtmumpitz
Leo Fischer über den Mietendeckel, die sozial Abgehängten und die besitzende Klasse
Offensichtlich ist die besitzende Klasse nicht länger an einer Fortführung des Sozialvertrags interessiert. Anders sind die Schlagzeilen der vergangenen Tage, besonders im Nachgang zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über den Berliner Mietendeckel, nicht zu erklären. Gerade hat Karlsruhe erklärt, dass in einer Zeit, in der in Sachen Corona ununterbrochen die Hoheit der Länder und die Ohnmacht des Bundes betont wird, ausgerechnet in Sachen Wohnen die Länder nichts zu sagen haben - dass es also völlig rechtens ist, dass skrupellose Immobilienkonzerne bei wohl mehr als 100 000 Berliner Haushalten jetzt Mieten nachfordern, die Mieten des Corona-Jahres überdies, von denen zig Millionen allein dafür gezahlt werden, um an Aktionäre weitergereicht zu werden.
Während am Wochenende in einigen Kliniken zum ersten Mal keine Herzanfälle mehr angenommen werden können, weil die Öffnungsexperimente zahlloser Kommunen die Notaufnahmen haben volllaufen lassen, haben sich die Unionsparteien, in denen sich Abgeordnete direkt am Leid von Menschen bereichert haben, in den Umfragen schon längst wieder von der Maskenaffäre erholt.
Im »Zeit«-Interview lehnt der Chef der Arbeitsagentur im Interview eine Erhöhung der Grundsicherung ab: »Ich bezweifle, dass jemand mit 600 Euro deutlich zufriedener wäre.« Eine erhöhte Grundsicherung überfordere etwa »die Kassiererin bei Aldi, die möglicherweise netto nicht viel mehr hat als der Empfänger von Grundsicherung«. Für ein sorgenfreies Leben seien die Menschen selbst verantwortlich, meint er: »Wer sorgenlos leben möchte, der muss sich berappeln und möglichst gut entlohnte Arbeit finden.«
Ein Kommentar von der Güte jener FDP-Politikerin, die auf die explodierenden Mieten die Antwort fand, man solle doch in die Lausitz ziehen - und wahrscheinlich dann auch dort die möglichst gut entlohnte Arbeit finden. An anderer Stelle empfiehlt ein Bündnis aus drei Wirtschaftsinstituten die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 69 Jahre, um die »Folgen von Corona« abzufangen, zu denen in die Höhe schießende Dax-Kurse, direkt an Aktionäre und Management weiterüberwiesene Staatshilfen und eine Rückkehr fast aller Branchenumsätze auf die Werte des Vorjahres gehören.
Wir fassen zusammen: Wenn wir einen gut bezahlten Job in der Lausitz annehmen, haben wir eventuell die Möglichkeit, nicht wohnungslos zu werden; es garantiert aber keineswegs mehr einen Klinikplatz in Notfällen, weil das Geld für die Kliniken schon dem Lufthansa-Management überwiesen wurde. Arbeitslos darf man nicht werden, weil es Leuten immer noch schlechter gehen muss als der Aldi-Kassiererin. Und dass es dieser eventuell sehr viel besser gehen könnte, das geben die Zahlen dann leider doch nicht her.
Währenddessen geht das Geldverdienen auf dem Immobiliensektor weiter, die Spekulation mit dem Lebensmittel Obdach. Gestreamlinete Prozesse in Banken und Behörden machen Immobiliengeschäfte zu einer Casinoerfahrung. Ganze Stadtviertel stehen leer, weil in Zeiten der Nullzinspolitik Grund und Gebäude die neuen Aktien sind; Geldspeicher, die nicht mal Geld enthalten müssen, die sich schon rentieren, wenn sie leer sind. Leere Städte, in die aus der Lausitz hineingependelt werden muss, um die Amazon- und Essensbestellungen der Oberschicht auszuführen. Wer sich dabei ansteckt, ist selber schuld und kann noch dankbar sein, so wenigstens nicht bis 70 arbeiten zu müssen.
Aber solange Leute es wider jede Vernunft für wahrscheinlicher halten, selbst Grundbesitzer statt Lieferfahrer zu werden, solange wird dieser gesellschaftliche Gesamtmumpitz eisern durchgezogen.
Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!