- Berlin
- Marzahn-Hellersdorf
Den Raum zurückerobern
In Marzahn-Hellersdorf wird der Protest gegen lokale Nazistrukturen lauter
»Wir haben keinen Bock auf Nazis und Verschwörungsideologie« ruft die Rednerin, die am Freitagnachmittag zusammen mit rund 200 meist sehr jungen Antifaschist*innen durch Marzahn-Hellersdorf zieht, immer wieder. Die Demonstration, zu der das Bündnis »Kein Raum für Nazis« aufgerufen hatte, richtete sich gegen die regelmäßig im Bezirk stattfindenden rechten und verschwörungsideologischen Versammlungen sowie gegen das als AfD-Treffpunkt bekannte Restaurant »Mittelpunkt der Erde«.
Die Kneipe sei ein »wichtiger Stützpunkt des völkischen Flügels der AfD«, so die Sprecherin der brandenburgischen Gruppe »Kein Acker der AfD«. Die Berliner AfD, die in Berlin fast keine Räume mehr findet, habe sich mehrfach hier getroffen, »das Who is who des deutschen Neofaschismus« sei als Redner eingeladen worden. Im vergangenen Herbst waren Björn Höcke und der neurechte Ideologe Götz Kubitschek zu Gast. Da das Lokal im brandenburgischen Hönow etwa 35 Meter jenseits der Landesgrenze liegt, dürfen die Demonstrant*innen diese nicht überqueren. Sie kehren am Ortsschild um, kündigen jedoch an, wiederzukommen, »sobald sich das Virus des Faschismus wieder hier trifft«.
Zahlreiche Anwohner*innen beobachten die Demonstration aus sicherer Entfernung von ihren Fenstern und Balkonen. Bis auf wenige Ausnahmen gibt es weder Solidaritätsbekundungen noch Beleidigungen, abgesehen von einigen pöbelnden alten Männern und einem Dutzend - so die Ansage vom Lautsprecherwagen - »Suffnazis«, die vor der Kneipe »Hellersdorfer Perle« provozieren.
Marzahn-Hellersdorf hat ein Problem mit Rechten: Im vergangenen Jahr wurden der dortigen antirassistischen Registerstelle 252 extrem rechte oder diskriminierende Vorfälle gemeldet, fast 100 mehr als im Vorjahr. Bei den Abgeordnetenhauswahlen 2016 erzielte die AfD im Bezirk ihr zweitbestes Ergebnis und landete mit 23 Prozent nur knapp hinter der Linkspartei auf Platz zwei. »Die Präsenz der AfD im Bezirk nimmt mit den anstehenden Wahlen im Herbst deutlich zu«, sagt Maja vom Verein Kudepo, der das linksalternative Projekt La Casa betreibt. »Es ist beängstigend zu sehen, wie viele Menschen die AfD als zukunftsfähige Partei ansehen.«
Auch Maria Schönherr, Sprecherin des »Kein Raum für Nazis«-Bündnisses, befürchtet, dass die AfD im September die meisten Stimmen im Bezirk bekommen könnte. »Die AfD ist nicht an einer Politik für die Menschen im Bezirk interessiert. Trotzdem sind sie viel im Bezirk unterwegs und versuchen, sich auch allen möglichen Initiativen anzudienen.« Auf dem letzten Landesparteitag der Berliner AfD sei viel darüber geredet worden, Corona zu einem der zentralen Wahlkampfthemen zu machen. Abgeordnete und Bezirksverordnete der Marzahn-Hellersdorfer AfD wie Gunnar Lindemann hätten in den letzten Monaten regelmäßig Proteste von Coronaleugner*innen in Berlin und speziell auch im Bezirk besucht.
Einer dieser Proteste ist der verschwörungsideologische Autokorso unter dem Motto »Corona-Diktatur beenden«, der jeden Freitag in Marzahn-Hellersdorf startet - laut Schönherr »eine krude Mischung von Coronaleugner*innen, rechten Selbstdarsteller*innen, AfDler*innen und lokalen Neonazis«. Tatsächlich saß in den etwa 140 Fahrzeugen ein breites Spektrum: vom Rentner im Trabant über Gutsituierte in SUVs bis zu kurzhaarigen Männern in Tarnhosen. Auch das »Q« der rechtsextremistischen QAnon-Verschwörungserzählung durfte nicht fehlen.
Die meisten Teilnehmer*innen der antifaschistischen Demo fuhren noch zur Kundgebung gegen den Autokorso am Kienberg, die allerdings von zwei Hundertschaften der Polizei fast blickdicht abgeschirmt wurde, was Unmut auslöste. Dennoch zieht Maja vom Verein Kudepo ein positives Fazit: »In letzter Zeit nehmen die antifaschistischen Aktionen immer mehr zu. Es freut uns zu sehen, dass viele Bürger*innen daran teilnehmen und ein Interesse besteht, einen solidarischen Kiez aufzubauen.«
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.