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»Das sind keine Ausnahmen«
Benjamin Luig kritisiert die strukturelle Umgehung des Mindestlohns auf Spargelhöfen
Der erste Spargel liegt schon auf den Tellern. Wo in Deutschland wird denn bereits gestochen?
Ja, die Spargelsaison hat jetzt in verschiedenen Regionen Deutschlands begonnen. Entscheidend für das Sprießen ist die Bodentemperatur. In kühleren Regionen wie in Niedersachsen ist der Spargel auch auf beheizten Feldern gewachsen.
Die Feldarbeiter*innen werden in den Medien häufig Erntehelfer genannt. Das klingt immer nach Ehrenamt. Welche Bezeichnung bevorzugen Sie?
Ich spreche von Saisonarbeiter*innen. Ich finde auch, dass der Begriff Erntehelfer irreführend ist, weil die nicht so ein bisschen bei der Ernte mit anpacken, sondern in diesem sehr arbeitsintensiven Bereichen der Obst- und Gemüseproduktion Schwerstarbeit leisten und ohne sie gar nichts laufen würde.
Spargel stechen in Deutschland vor allem Menschen aus Südosteuropa. 2020 wurden wegen der ersten Coronawelle Tausende Rumän*innen eingeflogen, die Auflagen für ihre Einreise gelockert. Wie ist es dieses Jahr?
In diesem Jahr können Saisonarbeiter*innen regulär nach Deutschland kommen. Die Einreise ist wie in den Jahren vor Corona dezentral organisiert, zum Teil über Vermittlungen aus den Herkunftsländern, zum Teil über Online-Plattformen, zum Teil rekrutieren deutsche Betriebe auch über digitale Medien selbst die Saisonarbeiter*innen. Die meisten kommen mit dem Bus. Auf den Höfen müssen dann diejenigen aus Risikogebieten in eine sogenannte Arbeitsquarantäne von fünf bis zehn Tagen – also praktisch alle: Nach jetzigem Stand sind die wichtigen Herkunftsländer wie Rumänien, Polen, Bulgarien, Georgien jeweils Risiko- oder Hochinzidenzgebiete.
Das heißt, sie sind in Quarantäne, arbeiten aber auch schon?
Genau, das bedeutet, dass sie möglichst in Gruppen von vier Leuten, wenn es der Betriebsablauf erfordert auch bis zu 15 Leuten arbeiten, aber nicht in Kontakt mit anderen Gruppen kommen sollen. Die Quarantäne bedeutet komplette Isolation sowohl bei der Arbeit als auch in der Freizeit. Damit wird das Recht auf Bewegungsfreiheit massiv eingeschränkt.
Dann können sie nicht aus den Unterkünften raus und nicht mal in den Supermarkt gehen, um sich Lebensmittel zu kaufen?
So ist es. Und damit steigt noch mal die Abhängigkeit von der Betriebsleitung, die ohnehin schon sehr groß ist.
Reicht das, um Corona-Ausbrüche wie im vergangenen Jahr zu verhindern?
Die Saisonarbeiter*innen müssen sich bei Einreise auf Corona testen lassen. Die Kosten dafür tragen sie selbst. Es gibt auch ein Hygienekonzept der Bundesregierung, das ist aber viel zu lasch. Bis zu acht Beschäftigte können gemeinsam in einem Raum übernachten. Wir sehen hier einen problematischen Doppelstandard. Bei der deutschen Bevölkerung werden die direkten Kontakte am Arbeitsplatz aus gutem Grund beschränkt, bei den Saisonarbeiter*innen läuft vieles weiter wie bisher.
Welche Maximalbelegung wäre aus Ihrer Sicht in Ordnung?
In den Regelungen der Bundesregierung steht, eine Unterbringung in Einzelzimmern sei »anzustreben«. Wir fordern, dass sie verpflichtend gilt.
Die Saisonarbeiter*innen fallen unter die Regelung der »kurzfristigen Beschäftigung«. Sie – beziehungsweise ihre Arbeitgeber*innen – sind für bis zu 70 Tage von der Sozialversicherungspflicht befreit. Letztes Jahr wurde die Ausnahme auf 115 erhöht, am Donnerstag hat der Bundestag eine Erhöhung auf 102 Tage beschlossen, »um unsere Ernte zu sichern«, wie das Bundesministerium für Landwirtschaft sagt. Was bedeutet das dann im Krankheitsfall?
Wir halten die Regelung für sehr problematisch. Es wird argumentiert, die Saisonarbeiter*innen bewegen sich dann weniger im Land, wechseln weniger die Betriebe, wenn sie länger am Stück auf einem Hof bleiben – und praktisch noch länger ausgebeutet werden können. Doch gerade in Zeiten von Corona brauchen wir unbedingt eine Sozial-, eine Krankenversicherungspflicht für alle Beschäftigten. Wenn die Arbeiter*innen erkranken und in einem Krankenhaus behandelt werden müssen, bleiben sie komplett selbst auf den Kosten sitzen. Wir hatten in den vergangenen Jahren in der Beratungsarbeit und bei der Gewerkschaft schon Fälle, bei denen Leute hier monatelang gearbeitet haben und aufgrund einer medizinischen Behandlung danach verschuldet wieder nach Hause gefahren sind.
Was bleibt denn normalerweise am Ende eines Monats – oder am Ende der Saison übrig? Die Saisonarbeiter*innen bekommen ja mittlerweile den Mindestlohn von 9,50 Euro.
Genau, sie bekommen den Mindestlohn, aber es gibt in den Betrieben in der Regel hohe Abzüge von den Löhnen. Da gibt es legale Abzüge für Unterkunft und Verpflegung, deren Höhe klar definiert ist. Wir beobachten bei unseren Feldbesuchen und bei unseren Beratungen allerdings, dass es oftmals hohe illegale Abzüge gibt. Ein typischer Fall ist, dass viel zu hohe Mieten angesetzt werden, Quadratmeterpreise wie in einem Penthouse in Berlin. Und es gibt noch weitere Formen von illegalen Abzügen. Beispielsweise für die Arbeitskleidung oder für die Arbeitsmittel, die bei der Feldarbeit gebraucht werden. In anderen Fällen wird ein Teil der geleisteten Arbeitszeit, vor allem Überstunden, nicht abgerechnet. Oft werden Löhne erst unmittelbar vor der Abreise gezahlt. Erst dann bekommen die Saisonarbeiter*innen die Lohnzettel, auf denen ein erheblicher Teil der Arbeitszeit gar nicht registriert wird. Das sind keine Ausnahmen, sondern strukturelle Formen, den Anspruch auf Mindestlohn zu untergraben.
Und am Ende sind das dann …?
Wir hatten beispielsweise vorletzte Woche einen Fall in Nordrhein-Westfalen, wo ein Saisonarbeiter fünf Wochen lang Akkordarbeit geleistet hat, Vollzeit, 48 Stunden die Woche, und mit weniger als 1200 Euro nach Hause gegangen ist.
1200 Euro für fünf Wochen Arbeit. Ist das üblich?
Es sind nicht wenige Betriebe, auf denen wir solche Rechenkünste beobachtet haben. Viele andere Betriebe halten sich an den Mindestlohn und die Begrenzungen bei den erlaubten Abzügen. Aber auch für sie kommt die Saisonarbeit sehr günstig, da sie über das Modell »kurzfristige Beschäftigung« die Kosten zur Sozialversicherung sparen.
Die kurzfristige Beschäftigung wurde beispielsweise für ausländische Studierende eingeführt, die im Heimatland krankenversichert sind. Das sind die Saisonarbeiter*innen oftmals nicht. Ab 2022 müssen die Arbeitgeber*innen nun nachweisen, dass die Beschäftigten anderweitig im Krankheitsfall abgesichert sind. Wird damit auch Ihre Forderung nach einer Meldepflicht für Saisonarbeiter*innen erfüllt?
Zunächst einmal: Es geht um private Krankenversicherungen, eine Art Billigkrankenversicherungsmodell speziell für Saisonarbeiter*innen. Das kostet 15 Euro im Monat und deckt natürlich nur ein Minimum ab. Aus unserer Sicht reicht das nicht aus. Was die Meldepflicht angeht, gibt es sie eigentlich schon. Wichtig ist uns aber auch, dass die Daten zugänglich sind und beispielsweise wir als Beratungsorganisation, als Gewerkschaften diese aufbereiteten Daten auch nutzen können. Dass wir wissen, zu welchem Zeitpunkt aus welchem Herkunftsland wie viele Leute hier in Deutschland als Saisonarbeiter*innen beschäftigt sind.
Konnten Sie sich dieses Jahr schon auf den Feldern umsehen oder auch bei den Unterkünften?
Die Spargelsaison hat ja gerade erst begonnen, das heißt, wir haben letzte Woche mit unsere ersten Feldbesuche durchgeführt. Aber einzelne Beratungsorganisationen von uns sind schon länger mit Fällen befasst, wie der in NRW zum Beispiel.
In den vergangenen Jahren haben vor allem Rumän*innen auf den Feldern gearbeitet. Jetzt gibt es eine Vereinbarung mit Georgien. Wie kommt es dazu?
Wir beobachten, dass viele Leute, die hier gearbeitet haben, irgendwann nicht mehr kommen wollen. Gerade im letzten Jahr gab es in der rumänischen Bevölkerung viel Empörung über die problematischen Doppelstandards in Deutschland. Einige rumänische Saisonarbeiter*innen haben uns gesagt, sie werden nicht mehr wiederkommen. Im Grunde beobachten wir seit Jahren eine Verschiebung bei der Rekrutierung: Früher kamen vor allem Saisonarbeiter*innen aus Polen, aktuell kommt die größte Zahl aus Rumänien. Zwar ist der Mindestlohn über die Jahre moderat angestiegen, trotzdem kommen die Saisonarbeitskräfte innerhalb Rumäniens aus immer ärmeren Schichten – oder aus Staaten mit niedrigeren Einkommen. Das heißt, der steigende Mindestlohn auf dem Papier alleine scheint die Arbeit nicht attraktiver zu machen, weil die realen Löhne, die sie ausgezahlt bekommen, weiter niedrig sind. Und viele Rumän*innen empfinden es als würdelos, wie sie in den hiesigen Betrieben behandelt werden.
Für die Betriebe wird es immer schwieriger, Saisonarbeiter*innen zu finden. Und deswegen lobbyiert der Bauernverband schon seit Längerem bei der Bundesregierung für Abkommen mit Drittstaaten, also Staaten jenseits der EU. Weil man mehr und billigere Arbeitskräfte haben will. Es gab auch den Versuch, ein Abkommen mit der Ukraine abzuschließen. Das ist nicht zustande gekommen. Eines mit Georgien ist jetzt zustande gekommen.
Was braucht es noch, damit sich die Lage der Saisonkräfte verbessert?
Die Gewerkschaft IG BAU hat im vergangenen Jahr ein spezielles Modell der Jahresmitgliedschaft speziell für migrantische Beschäftigte eingeführt. Bei dem Modell bekommen sie Beratung und Unterstützung in ihrer Sprache und ab Tag eins Rechtsschutz. Mit dem Rechtsschutz der Gewerkschaft können sie leichter in die Auseinandersetzung gehen und ihre Rechte einfordern. Das ist ein wegweisendes Modell.
Wie erfahren die Saisonarbeiter*innen davon?
Wir machen gemeinsam mit Gewerkschaftsvertreter*innen Feldbesuche und verteilen Informationsflyer dazu in den Herkunftssprachen. Außerdem informieren wir verstärkt über soziale Medien. Außerdem arbeiten wir auch mit Gewerkschaften in den Herkunftsländern zusammen, um das zu machen, was eigentlich die Staaten machen müssten, nämlich die Saisonarbeiter*innen schon im Herkunftsland zu erreichen und sie vorab über ihre Rechte in Deutschland zu informieren.
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