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Das Abi, mein Zimmer und ich
Mit den Abiturprüfungen endet für die Berliner Abiturient*innen ihr letztes Schuljahr, das sie sich so ganz anders gewünscht hätten.
»Boah, bin ich fertig«, stöhnt Mattes. Der 18-Jährige hat gerade vier Stunden lang seine erste Abiturprüfung in Geschichte geschrieben. »Lief aber eigentlich ganz ok«, sagt er.
Für Tausende Berliner Schüler*innen haben diese Woche die Prüfungen für das Abitur 2021 begonnen. Es ist schon das zweite Abi, das auf Abstand in Foyers und Turnhallen geschrieben wird, aber doch das erste für diejenigen, die sich schon selbstverständlich »den Corona-Jahrgang« nennen - denn sie haben gut die Hälfte ihrer Vorbereitungszeit vor Bildschirmen, hinter Masken und geschlossenen Zimmertüren verbracht. Am 16. März letzten Jahres endete ihre Schulzeit, wie sie sie kannten: Das Quatschen in der letzten Reihe, die Schwärmerei für das Mädchen in der Parallelklasse und das Kiffen an der Bushaltestelle waren vorbei.
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»Plötzlich gab es nur noch mich und mein Zimmer«, erinnert sich Mattes. Die Mails von seinen Lehrer*innen trudelten nur langsam ein: Während einige alle Aufgaben für das restliche Halbjahr auf einmal verschickten, meldeten sich andere gar nicht. »Das war einfach Wilder Westen, jeder hat gemacht was er wollte«, erzählt er. Auch Isabel schildert das Chaos in den ersten Wochen, erinnert sich an panische Nachrichten in ihrem Kurs-Chat, widersprüchliche Anweisungen und lange Aufgabenlisten: »Nach zwei Monaten hatte ich ein richtiges Tief«, seufzt sie. Isabel zweifelte damals sogar daran, ob sie das Abitur überhaupt schaffen kann.
»Wir konnten in der Coronakrise beobachten, dass die Jugendlichen permanent überlastet waren, sich einsam fühlten und Ängste entwickelten«, sagt Helene Wittek, die mit der Initiative »Dare2Care« psychosoziale Workshops an Schulen anbietet. Die Schulen seien nicht auf die psychische Krise ihrer Schüler*innen vorbereitet gewesen, erläutert die studierte Psychologin: »Ein Lehrer bat uns um Hilfe, weil ein Schüler Suizidgedanken im Klassenchat geäußert hatte.« Was mittlerweile auch Studien belegen, sei schon früh erwartbar gewesen: »Gerade in dieser wichtigen Entwicklungsphase brauchen Jugendliche den Austausch mit Gleichaltrigen, sie haben das grundlegende Bedürfnis, sich vom Elternhaus abzugrenzen, rauszugehen, sich auszuleben und neu zu entdecken.« Wenn all dies wegfalle, müsse es Alternativen geben, die die Jugendlichen auffangen. Eine Schulpsycholog*in auf 7000 Schüler*innen reiche da bei weitem nicht aus, mahnt Wittek.
An Isabels Tiefpunkt halfen ihr am Ende nur die steigenden Außentemperaturen: Im Mai sanken die Inzidenzzahlen, die Abiturient*innen durften zurück ins Klassenzimmer und bald auch in die Sommerferien. Es ist die Zeit der Corona-Partys, der 18. Geburtstage in der Hasenheide, der illegalen Raves in Waldstücken rund um die Hauptstadt. »Ich muss zugeben, ich bereue das echt nicht«, sagt eine Abiturientin, die ihren Namen lieber nicht in der Zeitung lesen will. »Es war die letzte Möglichkeit unsere Jugend zu genießen, bevor wir uns wieder in unsere Zimmer eingeschloßen haben«
Tatsächlich mussten im Herbst Zehntausende Berliner Schüler*innen mindestens ein Mal in Quarantäne. Spätestens im Dezember hängen die Schulen in einem deprimierenden Hin- und Her zwischen Präsenz- und Distanzlernen fest: Bekommt einer im gleichen Kurs Symptome, müssen die Anderen sich Zuhause isolieren - und in einem Jahrgang mit über hundert Schüler*innen und etlichen gemeinsamen Grund- und Leistungskursen passiert das andauernd. Noch sind die Tests rar, die Quarantäne muss man aussitzen, die Eltern bringen das Essen an die Zimmertür. Viele Schüler*innen dürfen über Wochen niemanden berühren. »Die Zeit vor Weihnachten war komplett schlimm«, sagt Isabel. In Quarantäne bekommt sie oft nicht mit, was die Anderen im Präsenzunterricht lernen. »Ich habe aus diesen Wochen so viele Wissenslücken, das habe ich erst jetzt beim Wiederholen gemerkt«, klagt sie.
Während im Frühling noch die Schuld in der eigenen Disziplinlosigkeit gesucht wurde, wenden sich jetzt immer mehr Abiturient*innen gegen die ungerechten Maßnahmen: »Ich verzeihe meinen Lehrer*innen das erste Coronasemester, aber danach nichts mehr«, konstatiert Mattes. An seiner Schule werden Briefe an Lehrer*innen und Schulleitung verfasst. In einer von Berliner Schülervertreter*innen organisierten Umfrage geben 70 Prozent der Befragten an, sie fühlten sich schlecht auf die diesjährigen Prüfungen vorbereitet.
»Ich hatte schon das Gefühl, dass wir manchen Erwachsenen erst mal beweisen mussten, dass wir nicht einfach zu doof oder faul sind«, sagt Mattes. Ende Januar zeigt sich Berlins Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) gnädig - und schenkt den Abiturient*innen drei Wochen mehr Lernzeit. Ein kleiner Trost. »Wütend war ich irgendwie gar nicht, einfach frustriert«, erinnert sich Mattes, dessen 18. Geburtstag ohne Feier vorbeizieht.
Und so vergehen die letzten Monate seiner Schulzeit in braver Strukturiertheit am Schreibtisch: »Ich habe mich daran gewöhnt, eigenständig früh aufzustehen, und den ganzen Tag zu lernen«, berichtet Mattes. Isabel findet, sie könne sich jetzt sehr gut selbst organisieren. Mit dem »Corona-Jahrgang« strömen die wohl diszipliniertesten Jugendlichen aller Zeiten in die Universitäten und auf den Arbeitsmarkt. Trotzdem äußern viele die Angst, dass ein Abi 2021 auf dem Lebenslauf ihre Chancen vermindere: Sie sind froh, diese Woche ganz standardisiert in Präsenz geprüft zu werden. Ein »Durchschnittsabi« ohne Prüfungen, mit einer Abschlussnote, die sich aus allen vier Semestern zusammensetzt, wollten sie nicht. »Das hätte ja den Eindruck verstärkt, dass wir wirklich zu wenig gelernt hätten«, resümiert Isabel.
Nun bekommen Berliner Abiturient*innen pro schriftlicher Prüfung eine halbe Stunde mehr Zeit und können teilweise die abgefragten Semester freier auswählen. Ansonsten ist alles, als wäre im vergangenen Jahr keine weltweite Pandemie dazwischengekommen. Nur, dass man sich nach der Prüfung nicht erleichtert in die Arme der Freund*innen fallen lassen kann. Nur, dass die Abifahrt ausfällt, auf die man sich schon in der Elften gefreut hatte. Nur, dass die große Liebe aus der Parallelklasse wegzieht, ohne dass man ihr betrunken die eigenen Gefühle gestanden hat.
Viele Abiturient*innen stehen nach den Prüfungen vor der großen Perspektivlosigkeit: Mattes wollte eigentlich nach Kanada. Stattdessen schon im Herbst zu studieren, kann er sich nicht vorstellen: »Wieder den ganzen Tag vor dem Laptop, das will ich nicht«, sagt er. Und so bleibt die Zukunft vage, alles ein wenig ziellos, wie schon seit einem Jahr. Nur eines hat Mattes fest eingeplant: »Wenn es wieder geht, feiere ich meinen 18. Geburtstag nach - mit richtig vielen Leuten!«
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