War es das jetzt? Russlands Kehrtwende in der Ukraine-Krise

Nach einer dramatischen Zuspitzung scheint sich die Lage im Donbass wieder zu entspannen

  • Birger Schütz
  • Lesedauer: 6 Min.

Wochenlang rollten die Truppentransporte entlang der ukrainisch-russischen Grenze, lieferten Satellitenbilder immer wieder neue und beunruhigende Bilder von riesigen Truppenansammlungen, zuletzt kreuzten russische Kriegsschiffe im Schwarzen Meer. Die Angst vor einer kriegerischen Eskalation ging in Europa um, Politikwissenschaftler, Journalisten und Analysten in West und Ost zerbrachen sich die Köpfe über der Frage: Kommt es zum Krieg in der Ostukraine?

Doch so unvermittelt, wie der lange auf niedriger Flamme brodelnde Konflikt Mitte März hochkochte, scheint er nun wieder abzukühlen: Am Donnerstag kündigte das russische Verteidigungsministerium in einer überraschenden Wendung an, seine entlang der ukrainischen Grenze und auf der annektierten Krim zusammengezogenen Truppen zurückzuziehen. Es habe sich um eine außerplanmäßige Übung gehandelt, verbreitete Verteidigungsminister Sergej Schoigu über die Nachrichtenagentur Ria Nowosti. Die Überprüfung der Gefechtsbereitschaft der Truppe sei nun abgeschlossen. »Die Streitkräfte haben ihre Fähigkeit bewiesen, den Staat zuverlässig zu verteidigen«, erklärte Schoigu. Er habe daher die Rückkehr der Einheiten in ihre Heimatbasen angeordnet. Der Abzug solle bis zum ersten Mai abgeschlossen werden.

Gesprächsangebot aus dem Kreml

Während politische Beobachter sich noch voller Verwunderung die Augen rieben, schob der russische Präsident noch ein unerwartetes Gesprächsangebot hinterher. Er sei zu einem Treffen mit seinem ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj bereit, erklärte Wladimir Putin am Donnerstagabend - allerdings nicht wie von Selenskyj vorgeschlagen im ukrainischen Donbass, sondern in der russischen Hauptstadt Moskau. »Wenn es um die Entwicklung der bilateralen Beziehungen geht, dann bitte«, erklärte Präsident Putin.. »Wir empfangen den Präsidenten der Ukraine zu jeder für ihn angenehmen Zeit in Moskau.«

Die mysteriös anmutende Kehrtwende kommt vor dem Hintergrund einer seit der heißen Phase der Krim-Annektion 2014 nicht mehr dagewesenen Eskalation der Spannungen. Diese verlief dabei in zwei Etappen. Zuerst war der seit dem Juli 2020 gültige Waffenstillstand zwischen der Ukraine und den abtrünnigen prorussischen Gebieten Donezk und Lugansk ins Bröckeln geraten. Seit Januar kam es an der sogenannten Kontaktlinie zwischen den Separatisten und der ukrainischen Armee immer öfter zu massiven Kämpfen. So wurden im Februar 135 mehr Verstöße gegen die Waffenruhe gezählt als noch im Vormonat, meldete die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE). Auch die Zahl der Opfer stieg wieder. Auf ukrainischer Seite kamen seit Jahresbeginn mindestens 31 Soldaten in Kämpfe um. Über Verluste der Separatisten liegen keine nachprüfbaren Zahlen vor. Als am 26. März vier ukrainische Militärangehörige an einem Tag ums Leben kamen, eskalierte die Lage vollends.

Wechselnde Erklärungen

In der zweiten Phase der Eskalation zog Moskau an der Grenze zur Ukraine dann eine riesige Zahl an Truppen, Panzern, Kanonen und Kampfflugzeugen zusammen. Zehntausende Soldaten und Kriegstechnik wurden aus verschiedenen Landesteilen an die Grenze geschafft und auch auf der Krim stationiert. Anschließend fand auf der 2014 annektierten Halbinsel ein Großmanöver statt, an dem nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums rund 10.000 Soldaten sowie 40 Kriegsschiffe teilnahmen. Nach Schätzungen der EU konzentrierte Russland zeitweilig mehr als 100.000 Soldaten an der Grenze zu seinem östlichen Nachbarland.

Was genau Moskau zu seinem demonstrativen Vorgehen bewegte, konnten auch erfahrene Kremlbeobachter nur vermuten. Die offiziellen Begründungen des Kreml wirkten widersprüchlich. Verteidigungsminister Sergej Schoigu bezeichnete die Verlegung Tausender Soldaten erst als Reaktion auf Aggressionen der Ukraine; später erklärte er sie mit Nato-Manövern. Die Einlassungen wirkten nach Einschätzung von Experten wenig glaubwürdig. Auch die Erklärung, es handele sich um ein einfaches Manöver, konnte nicht überzeugen. Zu gewaltig war die Truppenansammlung. Der mehrfache Wechsel der Erklärungen ließ vermuten, dass diese nur vorgeschoben sind.

Selenskys harte Linie

Unter Russland-Analysten im Westen kursierten daher verschiedene Theorien. Ein möglicher Erklärungsansatz führt Moskaus aggressives Säbelrasseln auf die Innenpolitik von Wolodymyr Selenskyj zurück. Der ukrainische Präsident geht seit Beginn des Jahres hart gegen prorussische Politiker vor. So ließ Selenskyj Anfang Februar drei russischsprachige Fernsehsender abschalten. Zwei Wochen später folgte dann der nächste Paukenschlag: Gegen den einflussreichen Oligarchen Wiktor Medwetschuk, sechs seiner Mitstreiter und 19 Unternehmen wurden Sanktionen verhängt. Der millionenschwere und äußerst einflussreiche Medwetschuk gilt als »Putins Mann in der Ukraine« mit exzellenten Kontakten zum Kreml. Putin wolle Selenskyj bestrafen und einschüchtern.

Ein anderer Erklärungsversuch lautete, dass der Kreml den Westen und speziell Joe Biden testen will. Wie weit würde der neue US-Präsident in seinen Unterstützungszusagen gegenüber der bedrohten Ukraine gehen? Würden Nato und EU an ihrer harten Position gegenüber Moskau festhalten? In einem stimmten die Experten aus Ost und West überein: Zwar bestehe ernsthafter Anlass zur Sorge, einen richtigen Krieg mit der Ukraine wolle Putin aber nicht riskieren. Zu hoch seien die die politischen und finanziellen Kosten eines unkontrollierten Gewaltausbruchs für den Kreml. Ein Waffengang im Nachbarland sei längst nicht mehr so populär wie noch 2014. Putin wolle einschüchtern und Macht demonstrieren - mehr nicht.

Die Ukraine entfaltete angesichts der Bedrohung an ihrer Ostgrenze eine emsige Krisendiplomatie. Präsident Selenskyj führte Gespräche mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan und Frankreichs Präsident Macron. Der ukrainische Außenminister Dmitro Kuleba drang in Gesprächen mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg und US-Außenminister Antony Blinken auf einen schleunigen Beitritt seines Landes. Sollte das Bündnis sein Land nicht aufnehmen, müsse man atomar aufrüsten, versuchte der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, Druck zu machen. Schließlich ließ sich Joe Biden herbei und lud den russischen Präsidenten zu einem Gipfeltreffen ein. In Moskau stießen die Vermittlungsversuch indes wochenlang auf taube Ohren. Mit scharfer Rhetorik spitzte der Kreml die verfahrene Lage zusätzlich zu.

Warnungen an der roten Linie

Was bedeutet also Russlands unerwartete Kehrtwende nach Wochen der Eskalation? Ist die Krise mit dem angekündigten Truppenabzug ausgestanden? Experten bleiben skeptisch. So weist der amerikanische Militäranalyst Michael Kofman daraufhin, dass nicht alle von dem Rückzugsbefehl betroffenen Einheiten an ihre ursprünglichen Standorte zurückkehren. Beispielsweise werden Teile der in den vergangenen Wochen aus Sibirien nach Westen verlegten 41. Armee nach Woronesch abgezogen. In der unweit der ukrainischen Grenze gelegenen Stadt hatte die russische Armee in den vergangenen Wochen ein riesiges Feldlager mit Hunderten von Panzern, Haubitzen und Infanteriefahrzeugen errichten lassen. Dort sollen die Truppenteile bis zum auf den Herbst angesetzten Großmanöver »Sapad« stationiert bleiben. Auch die auf die Krim verlegten Fallschirmjäger der 56. Luftlandebrigade fielen nicht unter die Rückholaktion. »Wir können also annehmen, dass sie auf der Krim bleiben«, schreibt Kofmann im Kurznachrichtendienst Twitter.

Andere Experten verweise auf Putins jüngste Rede an die Nation, in der er zwar nicht auf den Ukraine-Krieg einging, den Westen aber vor dem Überschreiten »roter Linien« warnte und mit dem Verweis auf das russische Atomwaffenarsenal die Wehrhaftigkeit seines Landes betonte. »Wir müssen diesen Abzug in den kommenden Wochen wirklich sehen«, schreibt Michael Kofmann. Es gebe Anzeichen dafür, dass manche Truppenteile weiter in der Region bleiben sollten. »Wieviele, wo und für wie lange - das sind die entscheidenden Fragen.« Die Truppen könnten weiter als Drohkulissen gegenüber dem Nachbarland dienen. Auch die Soldaten aus Woronesch ließen sich in kurzer Zeit in die Stellungen beordern.

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