- Wirtschaft und Umwelt
- Wirtschaft und Corona
Deutschland lernt nicht aus der Krise
Alternativökonomen befürchten Rückfall der Wirtschaftspolitik in Vor-Corona-Modus
»Der Markt richtet gar nichts«, warnt die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (AAW). Sie befürchtet einen Rückfall in die Marktgläubigkeit, die bis zum Ausbruch der Corona-Epidemie weite Teile der Politik beherrschte. Die Krise habe Trends noch verschärft, die ohnehin zu »Mehrfachkrisen in Deutschland« geführt hätten, hieß es am Montag. In einer Video-Pressekonferenz stellte die linke Ökonomengruppe das »Memorandum 2021« unter dem Titel »Corona - Lernen aus der Krise! Alternativen zur Wirtschaftspolitik« vor.
Nach 16 Jahren Merkel-Regierung legte die Arbeitsgruppe nun eine Bilanz deren »verheerender« Politik vor: »Die Massenarbeitslosigkeit wurde nicht beseitigt, Prekariat und Armut sind gestiegen und die Verteilung von Einkommen und Vermögen zugunsten der Besserverdienenden und Reichen im Land hat weiter zugenommen«, sagte die Bremer Ökonomieprofessorin und AAW-Sprecherin Mechthild Schrooten. Im Zuge der Coronakrise haben im vergangenen Jahr mehr als eine Million Menschen ihre Arbeit verloren. Über die Hälfte davon waren Minijobber, wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken im Bundestag hervorgeht.
In der Coronakrise habe der Staat allerdings an vielen Stellen eingegriffen, was »gut und richtig« sei, wie der Wittener Ökonomieprofessor Heinz-J. Bontrup lobte. Er befürchtet jedoch, dass die Politik wie nach der Finanzkrise die Lehren aus der Krise schnell wieder vergessen werde. Ein starker Staat sei aber grundsätzlich nötig, um die Fehler des Marktes nachhaltig zu korrigieren. Das gelte auch und gerade für den Kampf gegen den Klimawandel. Die Botschaft zieht sich wie ein roter Faden durch das »Memorandum«.
Wegbrechende Steuereinnahmen und expandierende Ausgaben haben die Staatsverschuldung in Deutschland von 59,6 Prozent 2019 auf 71,2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) 2020 steigen lassen. Und auch in diesem Jahr ist mit einer steigenden Verschuldung zu rechnen. »Die AAW sieht hierin für Deutschland kein Problem«, so die Alternativökonomen. Ein Teil des statistischen Anstiegs beruhe zudem auf dem sinkenden BIP, an dem die Staatsverschuldung gemessen werde, erklärte Schrooten. Ein Rückblick zeige, dass die Schuldenlast durchaus tragfähig sei: Die Zins-Steuer-Quote, also der Anteil der Zinszahlungen des Staates an den Steuereinnahmen, lag 1992 noch bei 14 Prozent, 2020 war sie auf drei Prozent gefallen. Solange die Zinsen niedrig bleiben, womit die Arbeitsgruppe zumindest mittelfristig rechnet, »gibt es keine Ratio, sich nicht zu verschulden«.
Im mittlerweile 45. »Memorandum« wird zudem für eine einmalige Vermögensabgabe zur Finanzierung besonderer Krisenkosten plädiert. Außerdem sollte die Erbschaftsteuer bei höheren Beträgen deutlich angehoben werden. Damit könne auch auf die durch Corona weiter zugespitzte Spaltung der Gesellschaft - »Arme werden ärmer, Reiche reicher« - reagiert werden.
Seit mehr als zwei Jahrzehnten werde der Staat »unterfinanziert«, so die Diagnose. Entsprechend groß seien die Defizite in vielen Bereichen. Auch die privaten Investitionen hinkten seit Langem dem gesellschaftlichen Bedarf hinterher. »Die Krise traf daher auf eine sehr schwache Infrastruktur«, analysiert Schrooten. Die Ökonomen fordern daher ein riesiges Investitionsprogramm in Höhe von 120 Milliarden Euro pro Jahr für eine sozial-ökologische Transformation.
Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik legt seit ihrer Gründung im Jahr 1975 Gegengutachten zum oft neoliberal orientierten Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, den sogenannten fünf Wirtschaftsweisen, vor. Wie bei diesen haben auch viele Vorschläge der Alternativen eine lange Verweildauer. Dazu gehört der Wunsch nach Vollbeschäftigung. »Die offizielle Arbeitslosenstatistik ist nicht einmal die halbe Wahrheit«, kritisiert Bontrup die Retuschen an der offiziellen Statistik, die eine hohe Beschäftigung vorgaukle.
Diesmal wenden sich die linken Ökonomen aber auch einem neuen Sektor zu. Im Memorandum legt die AAW ein detailliertes Konzept »zur unaufschiebbaren Verkehrswende« vor, das nicht alle begeistern dürfte. Gefordert werden eine Vollbremsung bei »PS-starken« Fahrzeugen, den umstrittenen SUV, sowie kräftige Preiserhöhungen für Benzin und Diesel. Da der Pkw auf dem Land quasi alternativlos ist, müssten Preiserhöhungen sozial abgefedert werden. Ein weiterer Schwerpunkt, der künftige Diskussionen befruchten dürfte, ist eine finanziell gesicherte und armutsfeste Reform der gesetzlichen Rentenversicherung. Denn auch in der Altersvorsorge habe der Markt schlicht versagt.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.