- Politik
- Arbeit
Solidarität!
«Systemrelevant» waren in der Finanzkrise nur Banken: Warum die Arbeitswelt im Zeichen von Corona anders aussieht und was sich ändern muss
Solidarität ist Zukunft« lautet das Motto des DGB zum Tag der Arbeit. In der Pandemie sollen alle »solidarisch« sein - die Gesunden mit den Kranken, die Jungen mit den Alten, Chefarzt und Krankenpflegerin, die Webdesignerin und ihre migrantische Putzfrau. Das große »Wir« der verwundbaren Einzelnen wird beschworen - jenseits von Klasse und Stand, Arbeit und Kapital? Doch statt Solidarität zu fördern, hat das Virus ein grelles Licht auf Missstände geworfen, Gegensätze weiter verschärft - und Alternativen sichtbarer gemacht.
Staat und Kapital
Von Unternehmen wird offenbar nicht erwartet, Teil der Anti-Virus-Gemeinschaft zu sein. Jedenfalls wurde von staatlicher Seite selbst unter Corona-Extrembedingungen nicht in die »unternehmerische Freiheit« großer Konzerne eingegriffen. Die Konsequenz: Impfstoffhersteller, gegründet mit staatlicher Förderung, machen ihre Patente zu Gold, statt die Formeln der Vakzine frei zugänglich zu machen - tödlicher Impfstoffmangel hin oder her. Die Lufthansa und der Tourismus-Konzern TUI wurden mit staatlichen Geldern gerettet - ohne dass man Einfluss auf ihre Entscheidungen nehmen würde, um etwa Kündigungen oder Schnäppchenangebote im Lockdown zu verhindern. Daimler, BMW und Volkswagen machen Rekordgewinne und schütten Dividenden aus, lassen sich Kurzarbeit aber von der Bundesagentur für Arbeit finanzieren. Dies grenzt an eine Veruntreuung öffentlicher Gelder, die besser genutzt werden könnten. Das Gesundheitswesen etwa wurde erst durch Privatisierung und Rationalisierung so ausgehungert, dass es in der Pandemie schnell seine »Belastungsgrenzen« erreicht: der »freie Markt« kennt keine Zukunftsvorsorge, er tötet im Zweifelsfall.
Deshalb ist ein Ausbau des öffentlichen Gesundheitswesens überfällig - privater Profit hat dort nichts verloren. Auch können öffentliche Gelder den Weg zu mehr Wirtschaftsdemokratie bereiten, wenn ihre Inanspruchnahme an die Umsetzung von Auflagen geknüpft wird. Der Staat kann hier auf eigenem Terrain vorangehen, mit Investitionen in eine soziale Infrastruktur, die Klassenschranken im Bildungssystem einreißt, der digitalen Spaltung der Gesellschaft entgegenwirkt, Leben im Alter nicht zu einer Armutserfahrung werden lässt. Eine solche Politik würde die materielle Basis für Solidarität erweitern.
Während Großunternehmen ohne Gegenleistung gestützt werden, sind kleine und mittlere Betriebe in Gastronomie, Non-Food-Einzelhandel, Kultur- oder Medienbranche umstandslos geschlossen worden, mussten lange oder vergeblich auf staatliche Hilfen warten. Manche von ihnen könnten für Bündnisse zugunsten einer aktiven staatlichen Wirtschaftspolitik zu gewinnen sein, wenn diese eine Sicherung gesellschaftlicher Bedarfe zum Ziel hat.
Kapital und Arbeit
Die Pandemie hat Krisenkorporatismus gefördert: In der Chemischen Industrie gibt es nun Krisenstäbe aus Management, Belegschaftsvertretern und Gesundheitsschutz. In der Metallindustrie wurde im jüngsten Tarifabschluss die verbindliche Beteiligung von Betriebsräten und Gewerkschaft im Transformationsprozess vereinbart. Vielfach wird die Krise jedoch von Unternehmen genutzt, um Belegschaften auszudünnen und Umbauprozesse als »Herr im Hause« durchzuziehen. Unter Umgehung des Betriebsrats wird vielerorts die Tür ins Homeoffice weit aufgestoßen, Produktionsarbeiter*innen sowie Beschäftigten beim Discounter oder im Baumarkt aber Anwesenheitspflicht verordnet mit Arbeits- und Gesundheitsschutz light.
Indirekte Steuerung zeigt im Homeoffice ihr hässliches Gesicht: Wer Leistungsvorgaben des Unternehmens erfüllen muss, egal wann und wo, arbeitet länger, flexibler und intensiver. Kein Wunder, dass psychische Erkrankungen zunehmen. Längst ist Vereinzelung ein Problem, mehr als ein Drittel der Heimarbeiter*innen klagt darüber. Und Betriebsräte fragen sich, wie sie an Beschäftigte, die zwischen Betrieb und heimischem Küchentisch hin und her pendeln, herankommen sollen. Ein »Recht auf Homeoffice« ist gut - genauso wichtig ist gute Arbeit im Betrieb und klare Regelungen zur Nicht-Erreichbarkeit. Die Unterstützung dafür dürfte jeden Tag wachsen.
Große Hoffnungen richteten sich auf eine Aufwertung »systemrelevanter Berufe«. Klar ist, was notwendig wäre: deutlich besser entlohnte, dauerhafte und rechtlich abgesicherte Jobs, angemessene Personalausstattung, humane Arbeitsbedingungen und Tarifverträge für alle. Es gibt Lichtblicke. Der jüngste Tarifabschluss im öffentlichen Dienst brachte eine überproportionale Erhöhung für die unteren Lohngruppen. Die Pflege wurde aus dem Fallpauschalensystem in Krankenhäusern herausgenommen. Selbst in der Fleischindustrie wurden endlich Werkverträge verboten. Zugleich gelten nur noch für 44 Prozent der Beschäftigten Branchentarifverträge, und Unternehmerverbände blockieren die Allgemeinverbindlichkeit. Es rechnet sich für sie. Außerhalb des Flächentarifvertrages wird im Durchschnitt eine Stunde länger gearbeitet und mehr als ein Fünftel weniger verdient. Ebenso im Osten - Unternehmerverbände verweigern auch nach drei Jahrzehnten eine Angleichung der Tarife. Mehr Solidarität ist gefordert, um diese verfassungswidrige Blockade aufzubrechen.
In der Debatte um »Systemrelevanz« liegt eine Chance, die Systemfrage ausgehend von den Erfordernissen des gesellschaftlichen Lebens und der Humanisierung der Arbeit zu stellen. »Systemrelevant« waren in der Finanzkrise 2008 vor allem Banken, jetzt geht es um Pflege, Handel, Erziehung, Logistik - kurz: um gesellschaftliche Reproduktion, ohne die kapitalistisches Wirtschaften nicht möglich ist. Daraus könnten Gewerkschaften mehr politisches Kapital schlagen.
Was tun?
Nach 14 Monaten Pandemie liegt die Kluft zwischen Status quo und dem gesellschaftlich Notwendigen offen zu Tage. Es ist absehbar, dass die Verteilungskämpfe sich verschärfen. Die neuen Staatsschulden müssen irgendwann beglichen werden. Von wem? Zum Beispiel von Unternehmen, die staatliche Hilfen nutzen, aber Steuerflucht betreiben. Die Lufthansa etwa hat laut der Bürgerbewegung »Finanzwende« 92 Tochtergesellschaften in Schattenfinanzzentren wie Panama und den Cayman Inseln. Damit muss Schluss sein: Gewinne und Vermögen müssen endlich angemessen besteuert werden.
Die Koppelung von Arbeit und sozialer Sicherung funktioniert für viele nicht mehr. Alleinselbstständige stürzten im Lockdown sofort in eine Existenzkrise, Minijobber*innen verloren mit dem Job jeden Schutz. Gebraucht wird eine Erwerbstätigenversicherung für alle, Minijobs gehören abgeschafft - und damit müssen Unternehmen mehr Beiträge zur Sozialversicherung zahlen.
All das ist ohne Konflikt nicht durchzusetzen, doch die Position von Arbeitenden ist durch die Pandemie geschwächt, alte und neue Spaltungslinien durchziehen die Klassengesellschaft. Manche erhalten bei Kurzarbeit betriebliche Zuschläge - andere verlieren als Leiharbeiter*innen ihren Job oder können als Niedriglohnbezieher*innen von Kurzarbeitergeld noch weniger leben. Mühsam erkämpfte Fortschritte bei der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern stehen in Frage, wenn vor allem Mütter als Antwort auf Homeschooling die Arbeitszeit reduzieren. Zu befürchten ist, dass die Konkurrenz zwischen Unternehmen (um Kunden und Aufträge) und zwischen Beschäftigten (um Jobs und erträgliche Arbeitsbedingungen) weiter zunimmt. Dies schmälert die Chancen, gemeinsam für bessere Arbeit einzutreten.
Doch es zeichnen sich politische Projekte ab, die es möglich machen könnten, Beschäftigte zusammenzubringen, die auf den ersten Blick wenig gemeinsam haben. Erwerbstätigenversicherung, eine deutliche Erhöhung des Mindestlohns, die Abschaffung von Minijobs und sachgrundloser Befristung, mehr Investitionen in öffentliche Dienste und soziale Infrastruktur, das Angebot kurzer Vollzeit für alle Beschäftigten, die auch in der Pandemie entweder zu wenig Arbeit haben oder länger arbeiten müssen, als sie wollen. Um dies durchzusetzen, braucht es wirkungsvollen Druck auf staatliche Politik und Unternehmen. Insofern hat der DGB recht: Solidarität - zwischen Lohnabhängigen - ist die Zukunft.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.