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- Repressionen in Kolumbien
Ohne Beweise
In Kolumbien ist die systematische Verfolgung von sozialen Aktivisten durch den Staat gängige Praxis
Es ist der 16. Dezember 2020. In Kolumbien herrscht im letzten Monat des Jahres eigentlich Feierstimmung. Robert Daza besucht seine Tochter in Pasto, im tiefsten Südwesten des Landes. Was er nicht weiß: In der Stadt überwachen Einheiten der kolumbianischen Polizei jeden seiner Schritte. Doch auf der Straße gibt es keine günstige Möglichkeit, ihn festzunehmen. Der 56-Jährige gelangt in die Wohnung seiner Tochter - noch wirkt alles normal. Daza verbringt den Nachmittag mit Tochter, fünf Monate altem Enkelkind und Schwiegersohn; später legen sie sich schlafen. Um drei Uhr morgens klingelt es an der Tür; dann Rufe «Hier ist die Polizei - öffnen Sie!» Der Schwiegersohn erschrickt , doch als Daza aufwacht, versteht er sofort, was vor sich geht: «Das ist für mich» , ruft er und läuft zur Tür. Die Beamten nehmen ihm Handy und Koffer ab, dann fahren sie ihn zu einer Polizeiwache der Departamentohauptstadt Pasto, etwa vier Stunden von Dazas Zuhause im ländlichen Nariño entfernt.
Robert Daza hat keine Bank überfallen und ist auch sonst kein Krimineller. Stattdessen ist er einer der Anführer der Bauernbewegung im Südwesten Kolumbiens und einer der Köpfe des «Congreso de los Pueblos» («Volkskongress), ein Dachverband zahlreicher Basisbewegungen. Daza ist einer von 34 Congreso-Aktivist*innen, die seit 2010 juristisch verfolgt wurden, weil sie angeblich Mitglieder der illegalen Guerilla ELN (Nationale Befreiungsarmee) seien. Die an der kubanischen Revolution orientierte ELN kämpft seit 1964 im Untergrund gegen den kolumbianischen Staat. Der Congreso de los Pueblos (CDP) hingegen bündelt die Kräfte friedlicher sozialer Bewegungen. Mögen die beiden Organisationen in ihrem theoretischen Fundament auch manche Überschneidung aufweisen, sind ihre Mittel grundverschieden. Doch die ELN dient dem kolumbianischen Staat als Vorwand, gegen friedliche Aktivist*innen vorzugehen. Die Beweise, die die Staatsanwaltschaft dabei vorlegt, sind dünn. So wurde letztlich keiner der 34 angeklagten Aktivist*innen verurteilt.
Seit mehr als 50 Jahren befindet sich Kolumbien in einem blutigen bewaffneten internen Konflikt zwischen Staat und Paramilitärs auf der einen und diversen Guerillagruppen auf der anderen Seite, der seinen Ursprung in der ungleichen Landverteilung hat. Die größte Guerilla - die Bewaffneten Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC-EP) - legte 2016 mit der Unterzeichnung eines Friedensvertrags die Waffen nieder. Dieses Ereignis erhielt international großen Beifall und nährte national die Hoffnung auf ein baldiges Ende des Krieges.
Neben der Demobilisierung wurden im Friedensvertrag eine Landreform, mehr politische Beteiligung, eine Entschädigung der Opfer sowie eine Wahrheitskommission zur Aufarbeitung der Gewalt vereinbart. Die Regierung kam in der Folge ihren Versprechen aus dem Vertrag nicht nach. Während einzelne Splittergruppen der FARC wieder zu den Waffen griffen, formierten sich landesweit neue paramilitärische Gruppen, um das von der FARC hinterlassene Machtvakuum und deren Position im Drogenhandel einzunehmen. Dieser Prozess beschleunigte sich seit der Wahl Iván Duques zum Präsidenten 2018. Mit ihm kehrte eine Regierung unter dem Einfluss des ultrarechten Ex-Präsidenten Álvaro Uribe zurück an die Macht. Uribe hatte durchgängig gegen den Friedensprozess mobilisiert. Bogotá kürzte die finanziellen Mittel für die Umsetzung des Friedensvertrags und erhöhte stattdessen das Militärbudget; gleichzeitig brach sie die fortgeschrittenen Verhandlungen mit der größten verbliebenen Guerillagruppe des Landes, der ELN, nach einem Anschlag in Bogotá ab.
Besonders dort, wo große extraktivistische Investitionen stattfinden, und in strategisch wichtigen Zonen für den Drogenhandel nimmt die Gewalt in Kolumbien zu, ebenso wie selektive Ermordungen. Seit der Unterzeichnung des Friedensvertrages wurden mehr als 1000 soziale Aktivist*innen und 276 demobilisierte FARC-Kämpfer*innen getötet. fgr
Warum verfolgt der kolumbianische Staat auf systematische Art und Weise friedliche Aktivist*innen und hat dabei den CDP im Fokus? Um dieser Frage nachzugehen, ist Jimmy Moreno der richtige Ansprechpartner. Moreno, weiche Gesichtszüge, breite Lippen, Geheimratsecken und dazwischen kurze abstehende Haare, führt durch die Räume des neu entstehenden Büros des Congreso mitten im historischen Zentrum der Hauptstadt Bogotá. Hinter einer Holztür stapeln sich Bücher und alte Möbel. »Die müssen wir dann die Tage mal an ihren Platz bringen«, erklärt Moreno, Sprecher der Organisation. In Morenos Sprache klingt das ländliche Santander durch, von wo er vor rechten Paramilitärs geflohen ist.
Der CDP wurde 2010 von 30 000 Menschen aus ganz Kolumbien in Bogotá gegründet. Es sind indigene, afrokolumbianische, bäuerliche und städtische Initiativen, die sich nicht vom offiziellen »Kongress«, dem kolumbianischen Parlament, vertreten sehen.
Zentrale Themen des alternativen Congreso sind die gerechte Landverteilung, ein Leben in Harmonie mit der Natur statt extraktivistische Projekte wie Bergbau, Staudämme und Monokulturen. Und der Congreso steht für Feminismus und den Aufbau von autonomen wirtschaftlichen Strukturen.
»Wir unterscheiden uns von anderen sozialen Bewegungen durch den Versuch, eine Gegenmacht aufzubauen, eine Art eigene Regierung der Basis«, erklärt Jimmy Moreno. Damit stellen sie den Machtanspruch der staatlichen Regierung unter Iván Duque in Frage. Duque ist politischer Ziehsohn des Ex-Präsidenten Álvaro Uribe, der in Kolumbien wie kein anderer für ein aggressives Vorgehen gegen die linke Opposition steht. Dabei nutzte Uribe den schlechten Ruf der Guerillas FARC und ELN, die nach mehr als 50 Jahren Krieg das Vertrauen der Bevölkerung mit Anschlägen und Morden verspielt haben, und erklärte jegliche linke Opposition zu Guerilla-Unterstützenden.
Nach der Entwaffnung der FARC unter Uribes Nachfolger Juan Manuel Santos Santos 2016 nährte dies in der friedlichen linken Opposition die Hoffnung, dass ihre Spielräume größer würden. Doch dann legte ausgerechnet der Friedensnobelpreisträger Santos, Präsident von 2010 bis 2018, den Grundstein für die weitere juristische Verfolgung: Mit dem Gesetz Nr. 1908 schuf er die Möglichkeit, Angeklagte, bei denen ein Verdacht der Unterstützung einer illegalen bewaffneten Gruppe besteht, bis zu drei Jahre in Präventivhaft zu nehmen. Opfer dieser Rechtssprechung wurde zuletzt Julian Gil, ehemals technischer Sekretär des CDP, der erst im November 2020 nach 900 Tagen im Gefängnis freikam, nachdem die Staatsanwaltschaft keine Beweise für seine vermeintliche Unterstützung der ELN vorlegen und auch die Existenz der anonymen Zeugen, die Gil belasteten, nicht beweisen konnte.
»Die Verfolgung der Staatsanwaltschaft ist systematisch«, sagt Jimmy Moreno. Dabei treffe es meistens Aktivist*innen, die eine Führungsrolle in ihrer Region übernehmen und das Potenzial haben, landesweit zu mobilisieren. Durch die Präventivhaft werden die Angeklagten für längere Zeit isoliert, dazu kommt das öffentliche Stigma, Guerillero zu sein. In einem Land, in dem das staatliche Militär und Paramilitärs Guerilla-Unterstützende bedroht und ermordet, ist das lebensgefährlich. Auch für das Ansehen in der Zivilbevölkerung ist das Stigma des Guerilleros eine Katastrophe. Noch am Tag der Festnahme von Robert Daza titelte »El Tiempo«, eine der größten Zeitungen Kolumbiens: »Festnahme von ehemaligem Abgeordnetenmitarbeiter wegen vermutlicher Verbindungen zur ELN.« Dazu ein Foto von Daza.
Die Anklage wirkt auch ohne Verurteilung. Nicht alle Richter*innen schlagen sich auf die Seite der Staatsanwaltschaft: »Es gibt Richter, die die Grundrechte verteidigen und dann gibt es Richter, die eine politische Rolle ausführen. Von letzteren gibt es deutlich mehr«, sagt Moreno aus der Erfahrung der vergangenen Jahre.
Robert Daza hat Glück. Nach einer Nacht auf der Wache beginnt eine Online-Verhandlung, bei der er erfährt, was ihm und zwei weiteren Anführenden des CDP vorgeworfen wird: Sie sollen Teil einer »Organisation für die Massenmobilisierung« der ELN sein. Daza handle unter dem Alias »Nacor«, dies gehe aus Dokumenten hervor, die bei Operationen der Guerilla entwendet wurden. Sein aktivistisches Engagement sei eine Strategie der ELN, erklärt die Staatsanwaltschaft. Sie werfen Daza nicht etwa bewaffnete Aktionen oder logistische Unterstützung vor, sondern die Organisation von Demos und Streiks.
Als die Richterin Daza das Wort erteilt, beginnt er aus seiner Biografie zu erzählen. Wie er es von einem sechs Autostunden und ein Tag auf dem Pferd von der nächsten Stadt entfernten Dorf bis auf die Universität geschafft hat und dann vom Agraringenieurstudium enttäuscht war, weil dieses chemielastigen Monokultur-Anbau proklamierte. Da engagierte sich Daza erst in der Studierenden- und dann in der Bauernbewegung. Später organisierte er die großen Agrarstreiks mit. Den Kampf gegen die Patentierung und Privatisierung von Saatgut. Daza sitzt an Verhandlungstischen hohen Regierungsbeamten gegenüber; im Streit um Bergbau, Staudämme und Palmölplantagen. Zunehmend kollidieren er und die Bewegung mit den Interessen der Regierung und großer Konzerne.
Daza fordert die Richterin auf: »Wenn Sie die Wahrheit wissen wollen, gehen Sie in die Gemeinden, mit denen ich gearbeitet habe und fragen, ob ich jemals eine Waffe getragen oder jemanden bedroht habe!«
Die Richterin lehnt die Präventivhaft für Daza ab. Er kommt frei und kann in sein Dorf zurückkehren; der Prozess steht aber noch aus.
Die nächste Attacke auf den CDP folgt. Dieses Mal trifft es Erika Prieto aus der CDP-Menschenrechtskommission. Prieto begleitet den Aufbau von »Guardias Campesinas«, unbewaffneten bäuerlichen Selbstverteidigungsgruppen und von »Erste-Reihe-Gruppen«, die bei Demos Angriffe der Polizei abwehren. Zuletzt versucht sie, verschiedene Sektoren für den Protest gegen das kolumbianische Fracking zu vereinen.
Im März ist Prieto auf dem Weg zu einer Veranstaltung des Ausbildungszentrums für bäuerliche Selbstverteidigung, da rufen ihre Anwälte aus der Hauptstadt an: Seit dem 22. Dezember, ein Tag nach der Freilassung von Daza, liegt ein Haftbefehl gegen sie wegen ELN-Mitgliedschaft vor, gegründet auf Aussagen von anonymen Zeugen.
Sie entscheidet, sich nicht zu stellen, sondern unterzutauchen, um zu verhandeln. Ihre wichtigste Bedingung: keine Präventivhaft. Die Staatsanwaltschaft reagiert nicht, stattdessen hängt das Militär Steckbriefe mit Prietos Bild auf: »Wir suchen diese Guerillera.«
Dem »neuen deutschland« schickt Prieto Sprachnachrichten. Ihre Stimme klingt verletzlich, im Hintergrund reden Frauen und Geschirr klappert; dazu Windgeräusche. »Seit zehn Jahren arbeite ich in dieser Region und wenn ich hier jemals rauskomme, werde ich nie wieder zurückkehren können, weil hier alles voller Paramilitärs ist. Ich ...«, setzt sie an, dann wird ihre Stimme dünner und man hört, dass sie weint.
In der Folgenachricht klingt sie gefasster: Die Menschen um sie herum verstehen, dass die Anschuldigungen gegen sie eine Verleumdung seien. Schwierig sei es allerdings ab jetzt mit neuen Leuten zu arbeiten: »Die, die mich bereits kennen, wissen, dass ich keine Gewalt anwende. Im Gegenteil, eigentlich versuchen wir etwas Liebevolles, Kollektives, Harmonisches aufzubauen.«
Prieto stockt, hinter ihr ist kurz eine tiefe Stimme zu hören, dann sagt sie: »Ich muss jetzt den Ort wechseln und melde mich, wenn ich wieder Internet habe.«
Der CDP macht die Situation von Prieto öffentlich. Auf Youtube melden sich Menschen zu Wort, die Prieto aus ihrem früheren Leben kennen. Da sitzt ein älterer Mann mit Schnauzer, Hut und offenem Hemd neben einem Ventilator und erzählt, wie Prieto ihn und andere von Vertreibung bedrohte Menschen im Medellíner Stadtteil Moravia unterstützte. »Ich will wissen, was jetzt mit ihr passiert.«
In ihrer bisher letzten Nachricht sagt Prieto: »Ich durchlebe sehr widersprüchliche Emotionen. Auf der einen Seite bin ich stolz auf all das, was wir erreicht haben: die Gemeinden, die jetzt ihre autonome Wasserversorgung haben. Auf der anderen Seite bin ich traurig. Auch wenn ich Kollektivität suche, habe ich Menschen, die mir besonders wichtig sind.« Sie schluchzt. »Meine Mutter, meine Familie, mein Mann, meine Freunde. Meinen Ort des Friedens, mein Zuhause, meine Hunde und Katzen. Darüber nachzudenken, dass ich all dem nicht mehr nahe sein kann, tut weh. Trotzdem bin ich sicher, dass ich meine Arbeit genau so fortführen werde für die soziale Sache.« Nun lacht sie: »Die Menschen um mich herum helfen mir dabei, dieser Angst, die die anderen in mir auslösen wollen, nicht zu viel Raum zu geben.«
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