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»Es ist eine mittlere Katastrophe«
Schule funktioniert am besten im Präsenzunterricht, sagt Lehrer Benno Linne. Gerade schwächere Schüler litten unter dem Verlegen ins Digitale
Das Telefon piept selbst noch am Abend. Mathematiklehrer Benno Linne hat sich daran gewöhnt, dass Schülerinnen und Schüler ihn auch außerhalb des Unterrichts kontaktieren, Aufgaben übermitteln, Fragen stellen. Es ist ein Lehrersein in anderen Zeiten - mit vielen Nachteilen, aber auch einer unverhofften neuen Wertschätzung des Lehrerberufs.
Benno Linne ist seit 1974 Lehrer. Er arbeitete auch als Schulleiter, war in Peru und Mexiko tätig, leitete die Berliner Lehrerbildung und war im Stab der Berliner Bildungssenatoren Jürgen Zöllner und Sandra Scheeres tätig. Nach seiner Pensionierung ist er wieder Mathematiklehrer, aktuell in den Klassenstufen 10 bis 13 der privaten Kantschule in Berlin. Im Interview spricht er über Schule in Zeiten von Corona, Noten und guten Unterricht.
Ist der Kontakt zu den Schülerinnen und Schülern enger geworden, angesichts der ganzen digitalen Verknüpfung?
Nein, das nicht. Es ist nur anders geworden. Der Präsenzunterricht ist ganz weit runtergefahren. Und das ist gerade für schwächere Schüler und für das Fach, das ich vertrete, eine mittlere Katastrophe. Die Erklärungen, das gemeinsame Erarbeiten, Problematisieren und Verbalisieren, all das, was eigentlich den Mathematikunterricht ausmacht, findet so nicht statt. Denn Mathematik ist ja nicht in erster Linie, dass da am Ende etwas herauskommen muss. Kernaspekt ist die Problemorientierung, das Denken und Begründen. Man bringt die Schüler damit übergeordnet in die Situation, Dinge im Netz kritisch zu reflektieren - das ist im Prinzip auch eine Vorbereitung auf den Umgang mit den verschiedensten Medien.
Mathematik ist also ein Schlüsselfach, und die Schlüsselaspekte sind vor allem in Präsenz zu vermitteln?
Ja, wenn es der Lehrer geschickt steuert - das ist die Kunst. Ich bin der Meinung, ein guter Unterricht lebt immer von den Fragen der Schüler und nicht von den Fragen der Lehrer. Denn dann erst entsteht ein Spannungsbogen.
Und digital ist das schwer hinzubekommen?
Ja, im Prinzip gar nicht. Wir haben als Privatschule zwar den Vorteil, dass alle unsere Schüler zu Hause einen Internetzugang haben und die entsprechenden Endgeräte. Zweitens haben wir eine unglaublich gute und toll ausgestattete IT-Stelle mit ausreichend Personal, das eingreift, wenn es irgendwo brennt. Aber auch unter diesen vergleichsweise guten Bedingungen ist nicht so ohne Weiteres zu kontrollieren, ob dieser Junge oder dieses Mädchen dem Unterricht folgt oder nicht. Sie sind zwar eingeloggt, aber ich sehe nicht ihr Bild. Im Präsenzunterricht erkenne ich sofort an den Augen, ob jemand schläft oder anwesend ist.
War das eine Entscheidung der Schule, die Videokonferenzen ohne Bild durchzuführen? Waren Sicherheitsaspekte ausschlaggebend?
Ich glaube, es wäre schon gegangen. Aber die Netze würden es nicht aushalten, wenn da ganze Schulen dranhingen.
Die staatlichen Schulen haben solche IT-Stellen ja eher nicht. Wie schaffen die es durch die Pandemie?
Ich weiß es nicht. Ich kann nur sagen, dass die armen Staatsschulen zu meinen Zeiten einen Lehrer hatten, der für IT zuständig war und dafür eine oder zwei zusätzliche Stunden bezahlt bekam. Wie die das jetzt geschafft haben, ist mir ein Rätsel.Ich hatte schon 2016, als ich mich aus dem Stab der Senatorin verabschiedet habe, zu ihr gesagt: In Zukunft gibt es mit Sicherheit zwei Probleme. Das eine ist das Problem der Ausstattung an den Schulen. Da ging es auch um Räume, nicht nur um Digitales. Und das zweite ist das Qualitätsproblem. Die Pandemie hat die Schwachstellen der Schule ganz deutlich zutage treten lassen.
Die Mängel in der digitalen Ausstattung sind überdeutlich zu sehen. Worin aber besteht das Qualitätsproblem?
Es liegt am Curriculum. Die Lehrer und die Schüler werden durch diesen Lehrplan gehetzt. Das Material für die Lehrer ist so umfangreich, dass das kaum jemand liest. Man wird als Lehrer auch wie ein Anfänger behandelt. Früher gab es fünf Spiegelstriche mit den fünf Themen des Schuljahres und wie viele Wochen man jeweils dafür verwenden sollte. Jetzt gibt es jede Menge methodische Anweisungen.
Zu viel Durchregeln also?
Genau. Es wird auch zu viel Stoff reingepackt, von dem ich nicht immer weiß, ob der notwendig ist.
Wie war über die vergangenen zwölf Monate das Verhältnis zwischen Präsenz- und Online-Unterricht?
Überwiegend online. Es fing mit den Osterferien im letzten Jahr an. Da hat sich das an unserer Schule relativ schnell mit dem Online-Unterricht eingependelt. Dann gab es die Präsenzphase vor den Sommerferien und danach - bis der nächste Einbruch kam. Da habe ich bestimmte Schüler sehr, sehr wenig im Präsenzunterricht gesehen. Im Großen und Ganzen ist es aber gut gelaufen. Und das Schöne ist: Das Lehrerbild hat sich positiv verändert. Man hat gemerkt, der analoge Unterricht ist erst einmal durch nichts zu ersetzen, und er bekam eine neue Wertschätzung.
Der Stellenwert ist gestiegen, weil man es vermisst hat?
Richtig, eine Defizitanalyse sozusagen.
Es ging ja hin und her mit Präsenz- und Online-Unterricht. Wäre es besser gewesen, komplett bei einer Sache zu bleiben und erst einmal gar keine Präsenzversuche zu machen?
Ich kann nur sagen, ich weiß von meinen Schülern, dass sie superglücklich waren, wieder in die Schule gehen zu können. Und ich vermute, die Eltern ebenso. Es hat auch uns Lehrern gutgetan, weil wir ja nur halbe Klassen hatten. Da konnte man ganz anders mit den Schülern arbeiten. Verringerte Klassengrößen ist ja auch ein altes Thema in der Schulpolitik.
Was hat Sie, der Sie ja selbst Schulleiter waren und später in der Bildungsverwaltung wichtige Positionen eingenommen haben, dazu gebracht, nach Ihrer Pensionierung doch wieder als einfacher Lehrer in die Schule zurückzugehen und zu unterrichten?
Das war ganz einfach: Ich wurde vom damaligen Geschäftsführer angesprochen, ob ich ihn in bestimmten Dingen beraten will, wenn zum Beispiel die staatliche Schulaufsicht kommt oder Lehrer eine Stunde halten müssen, nach der ihnen eine bestimmte Lehrbefähigung zuerkannt wird. Ich habe sie dann gecoacht, wie man so einen Stundenentwurf macht. So war der Anfang. Und bei einem Grillnachmittag fragte die damalige Schulleiterin, ob ich nicht gern unterrichten würde. Und ich sagte: Wenn Sie mich brauchen, gerne, aber dann nur Mathematik. Als das Schuljahr begann, hatte ich plötzlich 16 Stunden.
Es kursiert die Befürchtung, der jetzige Abschlussjahrgang verlasse weniger schlau die Schulen - wegen der Defizite durch die Pandemie. Und auch an Universitäten sinke das Niveau. Teilen Sie diese Besorgnis?
Nein, ich bin vom Grundsatz her immer positiv gestimmt. Allein wenn man sich anschaut, was die Kriegsgeneration mit Notabitur alles geleistet hat: Da hat kein Mensch davon geredet, dass es ein kaputter Jahrgang sei. Auch von der jetzigen Jugend wird jeder seinen Weg machen, unabhängig von seinem Schulabschluss.
Haben die jetzigen Jahrgänge vielleicht sogar Vorteile, weil sie viel schneller viel selbstständiger sein mussten?
Sie sind auf alle Fälle anders qualifiziert. Die sind ja so was von fix in Sachen IT, besser als die Lehrer. Das brauchen sie auch in Zukunft. Die haben sich das selbst angeeignet. Das war ja die Voraussetzung, dass man überhaupt unterrichten konnte. Für mich stellt sich allerdings grundsätzlich die Frage, ob man die Abiturprüfung überhaupt beibehalten muss. Die behauptete Vergleichbarkeit von Noten ist überhaupt nicht gegeben, nicht einmal von einer Schulklasse zur anderen, geschweige denn schulübergreifend oder länderübergreifend.
Was wäre dann ein angemessenes Modell für das Abitur?
Da gäbe es verschiedene Varianten. Ich denke, wir sind eine Leistungsgesellschaft und werden Noten nicht verhindern. Wenn es dann um den Hochschulzugang geht, ist es aber Aufgabe der Universitäten, ein Auswahlverfahren festzulegen.
Eine Aufnahmeprüfung also?
Nein, auf keinen Fall. Ich bin ein Freund von Wahrscheinlichkeitsrechnung. Eine Schulnote sagt nichts aus über die zukünftige Qualität eines Menschen im Beruf. Ich wäre für Losverfahren. Alle, die ein Abitur haben und sich für ein bestimmtes Studienfach bewerben, kommen in einen Topf, und dann wird per Los entschieden.
Das wäre eine kleine Bildungsrevolution. Was zeichnet, unabhängig vom Schulsystem, einen guten Lehrer überhaupt aus?
Der gute Unterricht, den er gibt.
Und was ist ein guter Unterricht?
Die erste Voraussetzung ist: Der Lehrer muss begeistert sein für das Thema. Wenn ein Lehrer hereinkommt und sagt, wir müssen das jetzt machen, weil es in der Prüfung vorkommt, dann ist das schlecht. Er muss begeistert sein und für das Thema brennen. Außerdem muss er fachlich hoch qualifiziert sein, und er sollte den Überblick über den gesamten Stoff haben, nicht nur von Klasse 1 bis 6 oder 7 bis 13, sondern komplett.
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Ganz ehrlich: Gehen Sie tatsächlich noch begeistert in jede Stunde, selbst bei einem Thema, das Sie schon Dutzende Male abgehandelt haben?
Ja, ich mache das doch jeden Tag anders. Ich bereite immer vor, wie ich die Lernkurve gestalte, und habe auch unter Kontrolle, wenn ich mich verplant habe.
Das merken Sie dann an den leeren Augen der Schüler im Präsenzunterricht?
Das merkt man schon daran, wenn sich nur einer meldet. Dann ist etwas schiefgelaufen. Man muss es wahrnehmen und die Konsequenz daraus ziehen.
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