- Politik
- Kontaktabbruch
Ich komme nicht heim
Jeja nervt
Seit viereinhalb Jahren habe ich meine Mutter, meine Familie nicht besucht. Und das wird sich so schnell auch nicht ändern. Wie mir geht es immer mehr Menschen: Sie haben in ihrer Familie nie den nötigen emotionalen Halt, Wertschätzung, den Respekt vor ihren Grenzen und ihren Rechten erfahren. Viele haben von klein auf gelernt: So, wie sie sind, dürfen sie sich nicht zeigen. Oft folgt dann im jungen Erwachsenenalter der Kontaktabbruch. Auch Medien haben das Thema zuletzt häufiger beleuchtet.
Dass man den Kontakt zu seinen Eltern abbrechen könnte, dürfte für die meisten undenkbar sein. Wer es dennoch tut, erntet daher häufig Unverständnis. Doch wie bei vielen anderen Themen auch hat das Internet Menschen zusammengeführt, die früher geglaubt hätten, mit ihren Gedanken und Gefühlen allein zu sein. In Foren und sozialen Medien tauschen sich Nutzer*innen über die schwierigen Beziehungen zu ihren Eltern aus, teilen Erlebnisse von Gewalt und Grenzüberschreitungen oder zeigen einander die schlimmsten Messenger-Nachrichten der Mama.
Als ich zum ersten Mal den Kontakt zu meiner Familie abbrach, hatte ich noch nicht die Unterstützung von anderen Betroffenen problematischer Familienverhältnisse. Ihre Geschichten waren mir unbekannt. Alles, was ich wusste, war: Aus diesem Moloch psychischer wie physischer Gewalt und Kontrolle muss ich heraus, wenn ich überleben will. Nach dreieinhalb Jahren suchte ich dann den Konflikt mit meiner Mutter. Zunächst verbesserte sich das Klima - ich war wieder regelmäßig zu Besuch. Doch mit den Jahren bemerkte ich, dass sich an ihrer zugrunde liegenden giftigen Beziehungsgestaltung mir gegenüber nichts geändert hatte. Als ich das zweite Mal den Kontakt abbrach, kannte ich auch die Lebensgeschichten anderer Menschen. Sie halfen mir, zu verstehen: Es wird sich nichts ändern.
In den Jahren dazwischen glaubte meine Mutter, mit der erwachsenen Reife werde doch wohl der Wunsch einhergehen, wieder in ihrem Sinne »normal« zu werden. Selbst, als ich auf die 30 zuging, war sie immer noch der Meinung, Dinge wie »Du siehst aus wie eine Nutte« sagen zu müssen, wenn ich ihrem Ideal von »Damenhaftigkeit« nicht entsprach. Dieser Kommentar war einer von vielen, die ich herunterschluckte, um weiter an die Familie glauben zu können. Auch ihr Desinteresse für meine queeren Beziehungen und ihre Versuche, immer wieder auszutesten, ob nicht doch noch eine Hetero-Ehe bei mir herauszukitzeln wäre, ignorierte ich.
Wie so oft in Familien eskalierte die Lage an den Weihnachtstagen. Das Fest war für mich schon lange eher ein Theater gewesen, das im Wesentlichen nur einem Zweck dient: der Selbstvergewisserung meiner Mutter. Ich und meine Geschwister waren in diesem Sinne Statist*innen, die sich über ihre dem Geldwert nach gerecht verteilten Geschenke zu freuen und dankbar den kulinarischen Feiertagsplan abzuspeisen hatten.
Schon Wochen vorher war mir angst und bange vor dieser Performance, die ich dabei abzuliefern hatte. Schließlich kam mir die Idee, ihr einfach von meiner Ängstlichkeit zu berichten und ein Gespräch darüber anzufangen, wie wir die Zeit und die Bedürfnisse gemeinsam planen könnten. Was ich erntete, war der altbekannte Wutausbruch. Ich hatte es gewagt, zum Hochfest meiner Mutter die Möglichkeit des Ungehorsams ins Spiel zu bringen. Statt verständnisvoll auf meine Angst zu reagieren, brachte sie kurzerhand eine Psychotherapie ins Spiel, schließlich sei ich immer so »hypersensibel« gewesen. Dabei war sie es, die mir Angst machte.
Die folgenden, weiteren Hassnachrichten und Grenzüberschreitungen machten das Maß voll. So wie mir damals ergeht es gegenwärtig vielen Menschen, die mit familiären Spannungen leben - denn der »Muttertag« rückt näher. Und ich forsche in einschlägigen Betroffenenforen mal wieder nach den Ursachen der Unfähigkeit meiner Mutter, eine Mutter zu sein. Liegt es an einer Persönlichkeitsstörung? An einem Kindheitstrauma? Ich bin mir unsicher - und werde mich wohl noch viele Jahre weiter mit meinen Fragen aufhalten.
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