- Wirtschaft und Umwelt
- Migrantische Landarbeiter
Schüsse auf Italiens Feldern
Die migrantischen Landarbeiter in Apulien sind bewaffneten Angriffen ausgesetzt. Nach einem neuen Überfall wollen sie streiken
Drei Männer sitzen in einem klapprigen Auto und fahren über einen holprigen Weg von der Feldarbeit in das Barackenlager, das sie ihr Zuhause nennen. Plötzlich nähert sich ein großer Geländewagen und jemand schießt mit einer Schrotflinte mehrmals durch die hintere Seitenscheibe auf die drei Männer. Zwei werden getroffen, einer wird nur leicht verletzt. Aber der andere, der 30-jährige Sinayogo Boubakar aus Mali, der wegen seiner Körpergröße »Biggie« genannt wird, wird mit schweren Verletzungen im Gesicht ins Krankenhaus eingeliefert, wo er ein Auge verliert. Von den Tätern fehlt jede Spur und auch ihr Motiv ist bisher unbekannt. Dies ereignete sich vor einigen Tagen in der Nähe von Foggia, einer Stadt im süditalienischen Apulien.
Es ist nicht das erste Mal, dass in der Gegend auf Landarbeiter geschossen wird. Immer wieder kam es in den letzten Jahren zu Übergriffen. Die Opfer sind immer die Schwächsten der Gesellschaft, junge Menschen aus Afrika, die auf den Tomaten- und Melonenfeldern für einen Hungerlohn die Ernte einfahren und unter absolut unwürdigen Bedingungen in Barackenlagern hausen - ohne Strom, ohne fließendes Wasser, ohne Hygieneeinrichtungen.
Teller und Rand ist der neue ndPodcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Die größte Barackenstadt Italiens, wahrscheinlich Europas, liegt eben in der Nähe von Foggia und wird im Volksmund »das große Ghetto« genannt. Wie viele Menschen hier leben, ist nicht klar, aber je nach der Erntezeit dürften es zwischen 1000 und 3000 sein. Nur wenige haben einen mehr oder weniger regulären Arbeitsvertrag, viele halten sich vollkommen illegal in Italien auf oder sind zumindest nirgendwo wirklich erfasst. Ihr Durchschnittslohn liegt bei 20 bis 25 Euro pro Tag; ein Arbeitstag dauert mindestens zwölf Stunden, meist arbeiten sie sieben Tage die Woche.
Vor einem Monat brannte hier ein Dutzend Baracken - ob es ein Unfall oder Brandstiftung war, ist nicht klar, aber man kann von Glück reden, dass niemand ernsthaft verletzt wurde. Schon wenige Tage später hatten die Landarbeiter einige Meter weiter aus Blechteilen, Plastikplanen und halbverkohlten Möbeln neue Behausungen errichtet. Jetzt hat die Stadtverwaltung versprochen, die Stromgeneratoren durch »normale« Leitungen zu ersetzen, neue Wasserstellen einzurichten, die schlammigen Wege sicherer zu machen und sogar Straßenbeleuchtung anzubringen. Außerdem will die Polizei die gesamte Gegend regelmäßig überwachen, um Brandstiftungen und andere Vergehen zu verhindern.
Es ist noch nicht lange her, dass einige Kleinkriminelle aus Foggia versucht hatten, aus den Stromaggregaten Treibstoff zu stehlen: Sie wurden von den Migranten in die Flucht geschlagen und einer von ihnen der Polizei übergeben. Es könnte sein, so ein Polizeisprecher, dass der Anschlag auf dem Feld gerade in dieser Episode seinen Ursprung hat. Aber auch andere Beweggründe werden nicht ausgeschlossen: Es könnte sich um eine Vergeltungsmaßnahme für was auch immer handeln - oder schlicht um Rassismus. »Auf Schwarze schießen« scheint ein beliebter Sport bei den Handlangern der lokalen Mafiaorganisationen zu sein.
Es ist nicht das erste Mal, dass die Behörden versprechen, die katastrophale Lage der Landarbeiter zu verbessern. Es hat bereits verschiedene Gesetze und Verordnungen gegeben - aber nur mit mäßigem Erfolg. Eine Erhebung von 2019 hat ergeben, dass sich gerade mal die Hälfte der Landwirtschaftsbetriebe an die Arbeitsgesetzgebung hält. Die Pandemie hat die Situation womöglich noch verschlechtert. Organisationen wie »Ärzte ohne Grenzen« oder »Emergency« versuchen, sich wenigstens um die schlimmsten Gesundheitsprobleme zu kümmern, aber wie viele Corona-Fälle es hier oder in ähnlichen Barackenlagern gibt, kann niemand sagen. Und geimpft wurden die Landarbeiter bisher auch nicht.
»Das Problem sind die Lebensumstände im Ghetto. Der Staat muss die Sicherheit der Bewohner garantieren, ist aber einfach nur abwesend«, erklärte Raffaele Falcone von der Gewerkschaft CGIL. »Es handelt sich um einen furchtbaren und grausamen Angriff«, sagte Nicola Fratoianni von der linken Partei »Sinistra Italiana«. Und weiter: »Um einen Angriff auf die Rechte und die Würde von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, um einen direkten Angriff auf die Grundlagen unserer Demokratie«.
Aboubakar Soumahoro von der unabhängigen Liga der Landarbeiter kündigt einen Streik an: »Am 18. Mai wird niemand von uns auf die Felder gehen und wir werden unsere Entrüstung, unsere Wut und Misere nach Rom tragen«. Man werde der Regierung sagen: »Kommt ihr doch her und erntet den Spargel, die Tomaten und die Wassermelonen. Jetzt reicht es! Schluss mit diesen Überfällen, Schluss mit der Sklavenhaltung!«
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.