• Politik
  • Aufarbeitung des Nationalsozialismus

»Menschen wurden zu Material«

Sozialpsychologe Andreas Zick über Lücken in der deutschen Erinnerungskultur und darüber, dass Bildung mehr ist als Wissen

  • Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 6 Min.

Sie untersuchen regelmäßig den Wissensstand in Deutschland in Bezug auf den Nationalsozialismus. Was hat Sie dieses Jahr am meisten überrascht?

Erstens: Dass über ein Drittel sagt, ich weiß viel, aber ich habe wenig gelernt - was heißt das eigentlich? Und zweitens, dass das Ausmaß der Parallelisierung zwischen Opfergruppen nicht unerheblich ist. Fast 41 Prozent in der repräsentativen Umfrage stimmen der Aussage zu oder teils-teils zu: »Die deutsche Bevölkerung hat während der NS-Zeit genauso sehr gelitten wir die Gruppen, die durch das NS-Regime verfolgt wurden.« Durch Verschwörungserzählungen wird dies noch verstärkt.

Andreas Zick

Der Sozialpsychologe leitet das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld. Er ist Mitautor des vierten Multidimensionalen Erinnerungsmonitors (Memo-Deutschland). Die Studie untersucht, was für Bürgerinnen und Bürger historisch bedeutsam ist und welche Einstellung sie selbst zur Erinnerungskultur haben. Ulrike Wagener sprach mit ihm über Erinnerungslücken, Ausbeutungsprozesse und die Proteste gegen die Corona-Regeln.

Wie kommt es dazu?

Das ist im Grunde eine Rückkehr des Revisionismus, eine rechtsmotivierte Geschichtsumdeutung. Von rechtspopulistischen und rechtsextremistischen Gruppen beobachten wir immer wieder Versuche, eine positive nationale Geschichte zu erzählen. Auf den Protesten gegen die Corona-Regeln wird das nun transportiert - gerahmt als Widerstand. Interessant ist, dass das auch jene Menschen erreicht, die gar nicht zu Protesten gehen, aber an diese Verschwörungsideologien glauben.

Was hat das mit unserer Erzählung einer gut funktionierenden Erinnerungskultur zu tun?

Die allermeisten Studienteilnehmer*innen sagen, die Welt könnte sich bei der Aufarbeitung der Geschichte ein Vorbild an Deutschland nehmen. Zugleich können wir seit unserer ersten Memo-Studie 2018 sehr stabil nachweisen, dass diese Aufarbeitung auch getragen ist von einer Täter-Opfer-Umkehr. Die Aufarbeitung ist verzerrt, gebrochen und sie hat Lücken. Und diese Lücken werden jetzt gefüllt vom Populismus.

Die Studienteilnehmer*innen schätzten durchschnittlich, dass es vier Millionen Zwangsarbeiter*innen in der NS-Zeit gab. Rund 80 Prozent gaben an, dass ihre Vorfahren keine Zwangsarbeiter*innen beschäftigt hatten. Ist das ein Scheitern der historisch-politischen Bildung - oder gute PR der Unternehmen, die profitiert haben?

Durch die gute PR wird dieses Scheitern mit erzeugt. Es ist viel Geschichte durch Nicht-Aufarbeitung verloren gegangen. Gerade bei der Aufarbeitung der Geschichte der Zwangsarbeiter*innen - es gab 26 Millionen von ihnen, wenn wir die besetzten Gebiete dazuzählen. Auf der anderen Seite müssen wir uns fragen, ob unsere Bildung, von der wir annehmen, sie wäre so gut, ausreicht. Die reine Zeit, in der sich Menschen in der Schule mit historisch-politischer Bildung auseinandersetzen, ist unfassbar gering.

Ich kann mich an meinen Schulunterricht erinnern, wir haben drei Mal von vorne den Nationalsozialismus durchgenommen. Daraus resultierte oft, dass Leute sagten, sie wollen sich nicht schon wieder damit beschäftigen.

Sie müssen das Selbstbild brechen, dass wir viel wissen. Offensichtlich reichen die drei Mal aus, um den Effekt zu erzeugen, dass man denkt, viel zu wissen. Warum? Weil Themen wie Propaganda und Agitation kaum oder gar nicht angesprochen werden, wenn es um die Frage geht, wie sie unsere Erinnerung und unser Geschichtsverständnis beeinflussen. Ebenso zeigt die Studie, dass viele junge Menschen die Zuverlässigkeit von Quellen nicht einschätzen können. Auch Themen wie Scham und Schuld werden selten angesprochen, daher kann jemand wie der AfD-Politiker Björn Höcke so leicht von »Schuldkult« sprechen. Diese Beschäftigung mit der Geschichte wird sofort zurückgewiesen, weil die Beschädigung meiner deutschen Identität damit zusammenhängt. Wissen über den Nationalsozialismus ist ein Teil, aber es reicht nicht aus, von oben zu hören, was richtig ist und ritualisiert zu erinnern. Wir müssen fähig sein, darüber nachzudenken, was es bedeutet, in Zwangsarbeit zu sein. Es reicht nicht zu wissen, wie die funktioniert hat.

Gefragt nach Opfergruppen des Nationalsozialismus nannten rund 82 Prozent der Studienteilnehmenden Jüd*innen, 44,5 Prozent Sinti*zze und/oder Rom*nja. Andere Gruppen wurden noch seltener genannt. 4,8 Prozent nannten Angehörige spezifischer Nationalitäten. Dabei wurden rund 30 Millionen Sowjetbürger*innen ermordet. Bis jetzt ist für den 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni kein offizielles Gedenken geplant. Welche Verantwortung hat die Politik für die lückenhafte Erinnerungskultur?

Die Menschen haben ein sehr undifferenziertes Opferbild. Wir brauchen - das ist etwas, was die Opfergruppen seit Ende des Zweiten Weltkriegs einklagen - Respekt und Anerkennung von Würde bei allen Gruppen, die Opfer wurden. Auch das gehört zur Würde, die Wiederherstellung von Würde. Daher denke ich, dass Politik sehr geraten ist, jenseits aller politischen Differenzen immer wieder ein Zeichen zu setzen, dass wir alle Opfergruppen im Blick haben. Gerade das Wissen, wie aus der einen Vernichtungsphantasie die vielen anderen entstehen, ist ungeheuer wichtig. Das heißt nicht Relativierung, sondern ein Verstehen, wie aus Rasse-Ideologien Vernichtungstaten entstehen.

Es wir immer wieder diskutiert, ob man, wenn man Kontinuitäten z.B. vom Kolonialismus zum Nationalsozialismus beschreibt, den Holocaust verharmlost. Hängt das mit der Sorge zusammen, eine Opferhierarchie aufzustellen?

Wir müssen uns damit beschäftigen, wenn Menschen eine Opferhierarchie herstellen. Aber wenn wir mit den Betroffenen reden, sehe ich das nicht. Es gibt eine sehr starke Solidarität unter den Opfergruppen. Jüdische Menschen verweisen gerade bei den Memo-Studien immer wieder auf die anderen Opfergruppen. Mit dem Blick auf die Opfer geht es auch um die Frage: Was waren denn die Taten? Es gab Vernichtungstaten, es gab aber auch Ausbeutungstaten. Menschen wurden über Arbeit entmenschlicht. Das große Thema der Aufarbeitung von Zwangsarbeit zeigt, was für Verwertungsideologien und ökonomistische Ideologien dahinter steckten. Sich damit zu beschäftigen, ist für manche sehr unangenehm. Das wirft uns zurück auf die Frage, wie Gesellschaften mit Menschen umgehen, welche Ideologien haben welches Menschenbild und wen entmenschlichen sie? Ich spreche mit einer Journalistin vom »nd«: Was bedeutet das eigentlich, über unsere Ausbeutungsprozesse zu sprechen, wie werden Menschen zu Opfern und in welchen Zusammenhängen?

Der Kapitalismus ...

Ja. Im Nationalsozialismus gab es eine überbordende kapitalistische Verwertungs- und Vernichtungsideologie. Und sind die Gruppen erstmal markiert als solche, die man mit Arbeit ausbeuten kann, dann gilt nur noch diese Logik - und die Logik ist ungebremst. Menschen wurden zu Material. Das zeigt die Zwangsarbeit, die nun nur noch gebrochen erinnert wird.

Welche Rolle spielt das in der aktuellen Situation?

Ich glaube, wir könnten aus der Erinnerung an die ideologische Ausbeutung des Nationalsozialismus sorgsamer darüber nachdenken, wie Gesellschaften mit Menschen umgehen. In der Pandemie wurde deutlich, wie viele Menschen in prekären Lebensverhältnissen leben. Lebensverhältnisse, die einhergehen mit einer höheren Gesundheitsgefährdung. Das wurde lange übersehen. Was bedeutet das denn, wenn wir systemrelevante Berufe haben und wir damit Leute meinen, die als Kassierer*innen und in Fabriken arbeiten? Was lernen wir aus der Geschichte des Nationalsozialismus darüber, was bestimmte Logiken über Menschen und ihre Bedeutung und Würde in Gesellschaft anrichten können? Auch hier geht es mir nicht um Parallelisierung von Geschichte, sondern die Frage, was wir erinnern, warum wir erinnern und was wir wissen über den Schutz der Würde, die nach dem Krieg allen garantiert wurde.

Lesen Sie über die Forderung der Linkspartei, den 8. Mai zum Feiertag
zu machen und zum Gedenkakt für sowjetische Opfer.

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