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Das Märchen vom Mythos

Vor hundert Jahren wurde der Künstler Joseph Beuys geboren

  • Stefan Ripplinger
  • Lesedauer: 6 Min.

Hundert Jahre Joseph Beuys - willkommener Anlass für Linksliberale jeder Couleur, sich darüber zu ereifern, wie fragwürdig, reaktionär, wenn nicht faschistisch die von diesem Künstler in die Welt gesetzten Mythen sind. Dem Materialisten stellt sich eine andere Frage: Wie kommt ein Moderner zum Mythos?

Moderne und Mythos schließen einander aus. Wie und warum sie das tun, kann nur der erörtern, der weiß, was ein »Mythos« ist. Getrost vernachlässigt werden darf die flache Auffassung, nach welcher Mythos eine Erfindung oder gar eine Lüge sei. Denn dass der Mythos erfunden ist, bestreitet er selbst in keinem Augenblick. Und dass er keine Realität abspiegelt, macht gerade seine Realität aus. Angenommen, Beuys wäre gar nicht, wie er erzählte, auf der Krim von Tataren gesundgepflegt worden, so wäre seine Erzählung zwar frei erfunden, aber könnte als Mythos - von einer Rettung oder Erlösung - doch, ja gerade deshalb die Fantasie befeuern.

Ist ein Mythos also einfach eine Legende? Die Meinungen darüber gehen auseinander, aber gerade der Fall Beuys zeigt, dass auch das zu kurz gegriffen wäre. Ein Mythos ist eng mit der Gesellschaft, ihren Bedürfnissen und Imaginationen verbunden, muss also notwendig das Schicksal einer Person übersteigen. Was einem Einzelnen auf der Krim passiert ist, ist für einen Mythos ohne Belang, wenn dieser Einzelne nicht wenigstens als Erlöser gilt. Mehr noch: Der Mythos bleibt ohne Effekt, wird er bloß erzählt.

Damit ein Mythos wirken kann, muss er zeremoniell vermittelt werden. Das hat Beuys spätestens 1963 erkannt, als er während einer Aufführung seiner »Sibirischen Symphonie« einen toten Hasen mit einem Klavier verband und eine Art von Energiewandlung (christlich gesprochen: eine Transsubstantiation) inszenierte. Im selben Jahr setzte er auch schon auf symbolische Weise Fett ein. Mit dem Hasen, der für Inkarnation stehen soll, und dem Fett als Wärmespeicher begann er, Elemente einer großen Mythologie zu synthetisieren, zu der dann bald auch die Batterie (Energie), Blut, der »Eurasienstab« (Verbindung von Ost und West) sowie der Hirsch (das Animalische) gehören sollten. Und hier stoßen wir auf das große Problem seiner Kunst: Mythen sind nicht nur kollektive Formen, sie sind auch kollektive Produkte. Dass ein Einzelner wie Beuys aus Versatzstücken wie aus einem universellen Warenkatalog seine Privatmythologie zusammenstoppelt, widerspricht dem Überpersönlichen des Mythos.

Dieser Widerspruch ist dem modernen Künstler allerdings nicht anzulasten. Denn die Moderne bezeichnet ja gerade die Epoche, in der Übereinkünfte und Zusammenhänge zerfallen, auch wenn Zerfallsformen wie die Ikonen der Trivialkultur oder Narrative aller Art noch immer im Einsatz sind. Beuys, der streng katholisch erzogen wurde, wandte sich zunächst einer andern zerfallenden Form zu: dem Christentum. Noch bis Ende der 1950er-Jahren schuf er Kreuze, Grabsteine, Pietàs und blieb so in der Machtsphäre der »alten Glaubenskräfte«, von denen er bald erkannte, sie seien »nicht mehr auf der Höhe der Zeit«. Dass er binnen weniger Jahre ein völlig eigenständiges Programm entwerfen konnte, das Anleihen nicht mehr nur aus dem Katholischen, sondern auch aus dem Keltischen (Eichen), Sibirischen (Schlitten), Mongolischen (Filz) machte, beweist, wie beliebig die (sakralen) Inhalte sind; beispielsweise verwendete Beuys christliche Motive, so das Kreuz, unverändert weiter. Es kam ihm darauf an, Kunst wieder dem Kult anzugliedern. Und damit wollte er exakt das Gegenteil von Fluxus, der Künstlerbewegung um George Maciunas, Nam June Paik, Tomas Schmit und Emmett Williams, der er sich für einige Jahre anschloss.

Fluxus und Beuys treffen sich einzig in einem gemeinsamen Ziel: dem Verkürzen des Abstands zwischen Künstler und Publikum. Die Fluxusleute waren in dem Punkt freilich konsequenter. Denn so demokratisch Beuys sich stets geben sollte, die Rolle des Priesters konnte er nicht ablegen, und sie sorgt bereits für einen erheblichen Abstand. Das Faszinosum seiner Taten und Werke war Fluxus völlig fremd. Eine Aktion von Beuys strebt zum Kult, eine Fluxusaktion zum Alltag. Ein Objekt von Beuys behauptet, gerade weil es krude und roh aussieht, mehr zu sein, als es ist. Ein Fluxusobjekt behauptet, weniger zu sein, als es ist, es will ja meistens nicht einmal Kunst sein.

Die Kunst von Beuys will alles Verlorene zugleich bieten: Gemeinschaft, Heilung, Politik von unten. Das stieß auf ein Bedürfnis und hatte deshalb Erfolg, übrigens bis heute. In ihrem Buch über die Schreibenden Arbeiter der DDR (2021) beruft sich Anne M.N. Sokoll ausdrücklich auf den Satz von Beuys, jeder Mensch könne ein Künstler sein. Es ist allerdings seltsam, dass ein sozialistisches Projekt sich an Beuys, und nicht umgekehrt, er sich an ihm, messen muss. Denn zwar orientierte er sich mit seinen Aktionen und Parteigründungen der siebziger Jahre auf einen »freien demokratischen Sozialismus«, aber über einen freundlichen Anarchismus weist seine »Soziale Plastik« nirgendwo hinaus.

Ein Schwätzer war er aber nicht. Das beweist seine Entlassung aus der Düsseldorfer Kunstakademie, 1972 veranlasst vom späteren Bundespräsidenten, dem damaligen nordrhein-westfälischen Wissenschaftsminister Johannes Rau. Weil Beuys fand, es gebe »bei allen ein Kreativitätspotenzial, das durch Konkurrenz- und Erfolgsaggression verdeckt« werde, nahm er Hunderte abgewiesener Bewerber in seine Klasse auf und erklärte trotzig: »Ich weiche nur, wenn man mit Panzern vor der Akademie auffährt.«

Mit den Aktionen auf Grundlage des »erweiterten Kunstbegriffs« zeigte sich Beuys komplexer als mit seinen Kunstobjekten selbst, die kitschig sind, wenn »Kitsch«, mit Lothar Kühne definiert, der beruhigende Rückgriff auf frühere Produktionsweisen ist. Dieses nostalgische Zurück signalisieren aber die Objekte von Beuys, die sich mit wenigen Ausnahmen (Batterien und Pumpen) auf eine Produktion vor der Industrialisierung, oft auch vor der Manufaktur, beziehen, ob auf die alteuropäische Schmiede oder auf das nomadische Handwerk. Seine Werke wecken, wie einst Peter Handkes »andersgelbe Nudelnester«, die Illusion, begreifbar, weil hausgemacht zu sein. Das heißt aber auch, dass dieser Rückgriff schmerzhaft an das erinnert, was durch die Entfremdung - mit Beuys: die »Kälteplastik« - verloren ging.

Der reale Sozialismus wirkte, gerade weil seine Produktivität seit den siebziger Jahren dem Westen hinterherhinkte, in seinen Augen menschlicher. Beuys’ große Installation »Wirtschaftswerte« (1980) - Produkte aus der DDR, die er signierte, als wären sie von ihm - ist, bei aller Ironie, auch ein Abgesang auf eine Warenwelt ohne falsche Versprechungen. So zeigt sich, wie Produktion, räumlich oder zeitlich nur leicht verschoben, zum Mythos werden kann, auch wenn sie dann mehr ein Märchen vom Mythos ist. Um ihn zu animieren, ist ein Zeremonienmeister gefordert, und als solcher bleibt Beuys bei Freunden und Feinden in Erinnerung.

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