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Algerien steckt in der Sackgasse
An der sozialen und ökonomischen Krise in dem nordafrikanischen Land entzünden sich immer neue Proteste
Reges Treiben herrscht in der Markthalle »Meissonnier« und an den dicht aneinandergereihten Ständen auf der umliegenden Straße Ferhat Boussad im Zentrum Algiers. An einem Gemüsestand kauft Luisa die Zutaten für das abendliche Gericht zum Fastenbrechen. Mit sorgenvoller Miene blickt sie auf die Preisschilder. »Alles ist teurer geworden. Sogar die Kartoffeln. Fleisch kann man sich kaum noch leisten, von Obst ganz zu schweigen«, sagt die Mittvierzigerin.
»Dass die Preise zu Beginn des Ramadan steigen, kennen wir ja. Aber sonst gingen sie im Laufe des Monats wieder runter. In diesem Jahr ist das nicht so«, erzählt sie, während sie ein paar Tomaten und Zwiebeln kauft. Am Fleischstand geht sie an diesem Tag vorüber, denn sie will lieber noch nach einigen preiswerten Kleidungsstücken als Geschenke für die Kinder Ausschau halten. Zum Eid Al-Fitr, am Ende des für Muslime heiligen Monats Ramadan, ist das Tradition, und diese Freude will sie sich und ihrer Familie nicht nehmen lassen.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Wenn voraussichtlich am Donnerstag das Fest beginnt, blicken wie Luisa viele Algerierinnen und Algerier auf einen entbehrungsreichen Ramadan zurück - nicht nur wegen des Fastens. In diesem Jahr hat er die zunehmende soziale Krise noch offener zutage treten lassen als in den Jahren zuvor. Grund für die Preissteigerungen sind nach Einschätzung von Experten die Praktiken im informellen Sektor mit seinen vielen Zwischenhändlern: Diese hebeln geltende Gesetze aus und entziehen sich jeglicher staatlicher Regelung. Die soziale Situation wird zudem durch die steigende Arbeitslosigkeit verschlimmert, deren Rate laut Internationalem Währungsfonds bei 14 Prozent liegt.
Das Heer der Erwerbslosen wurde in den vergangenen Monaten durch Zehntausende verstärkt, die durch die Pleite der Großunternehmen auf der Straße gelandet sind. Deren Chefs, wahre Oligarchen, waren nach dem Sturz des damaligen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika 2019 wegen Korruption zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Ihre Firmen, vor allem in der Auto-, Bau- und Zulieferindustrie waren die Säulen der Privatwirtschaft. Die vom Staat eingesetzten Gremien zu deren Rettung haben vielmehr an deren Abwicklung gearbeitet, so Kritiker.
Das Land zahle jetzt für jahrzehntelange Misswirtschaft, so der Wirtschaftswissenschaftler Brahim Guendouzi. »Die algerische Wirtschaft kann so nicht mehr weiter funktionieren, sich auf die Einnahmen aus Erdöl und Erdgas verlassen, mit einem informellen Sektor in fast allen Bereichen, vielen staatlichen Subventionen und einem schlechten Klima für Geschäfte und Investitionen«, sagte er gegenüber algerischen Medien.
Diese Analyse teilt auch der Ökonom Yacine Ould Moussa, der vor wenigen Tagen im staatlichen Rundfunk weitsichtige und Sektoren übergreifende Reformen forderte. »Bisher gab es immer nur Notlösungen und kosmetische Maßnahmen. Das Geld wurde ins Erdöl gesteckt. Das hat nichts gebracht. Die Einnahmen sinken, das Produktionsvolumen sinkt, die Importausgaben steigen. Um ökonomisch stabil zu werden, braucht es Investitionen in den produktiven Bereich außerhalb des Erdöl- und Erdgassektors, in kleine und mittlere Unternehmen zur Schaffung von Arbeitsplätzen.« Voraussetzung dafür seien stabile politische Strukturen.
Diese versprach dieser Tage Staatspräsident Abdelmadjid Tebboune - erneut mit Blick auf die für Juni anberaumten vorgezogenen Parlamentswahlen. Zugleich kündigte er an, zur Lösung der sozialen Probleme mit allen Akteuren in einen Dialog zu treten. Er reagierte damit auf die landesweiten Streiks um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen, die seit mehreren Wochen an der Tagesordnung sind.
Ohnehin schlägt der Führung des Landes jede Woche der Unmut der Bevölkerung bei den Demonstrationen der Protestbewegung Hirak entgegen. Die jüngsten Arbeitskämpfe betreffen den öffentlichen Sektor, vor allem das Bildungs- und Gesundheitswesen. Für Letzteres wies Tebboune, der sich selbst monatelang wegen seiner Corona-Erkrankung in Deutschland hat behandeln lassen, seine Minister an, einen Terminplan für eine grundlegende Krankenhausreform vorzulegen.
Die Regierung schlägt allerdings bisher einen ganz anderen Ton an. Als vor einer Woche Hunderte Feuerwehrleute in Algier mit einem Marsch auf das Präsidialamt gegen schlechte Bezahlung protestierten, wurden sie von der Polizei gewaltsam auseinandergetrieben. Innenminister Kamel Beljoudi sprach von einer »unbegründeten Aktion, die von Kräften mit zweifelhaften Absichten provoziert und unterstützt wird« und »eine Gefahr für die öffentliche Ordnung« sei. 230 Feuerwehrmänner, die an dem Protest teilgenommen hatten, wurden suspendiert.
Rückendeckung erhält der Minister dabei von oberster Stelle, der Armee. Diese schaltete sich erstmals öffentlich in die Auseinandersetzung ein. Hinter den Streiks stünden »Gegner der Veränderung, die mit niedrigen Methoden ihr Gift verbreiten wollen«, hieß es im Leitartikel der jüngsten Ausgabe ihrer Monatszeitschrift »El Djeisch«. Es seien »hoffnungslose Versuche, die nationale Sicherheit zu destabilisieren«. »Das aber ist eine rote Linie, die nicht überschritten werden darf«, drohen die Verfasser.
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