- Politik
- Flüchtlinge auf Lesbos
»In Europa werden sie dir helfen«
Trotz Epilepsien und Lähmungen: Die griechische Regierung bringt besonders schutzbedürftige Flüchtlinge in ein unbewohnbares Lager
Mit Mühe bewegt sich Khaled Al-Afat aus Syrien über den unebenen Boden des Flüchtlingslagers Mavrovouni, besser bekannt als Moria 2. Wie ein Wimmelbild erstrecken sich Zelte und ihre mehr als 7800 Bewohner vor ihm, ein endloses Nebeneinander von Geschichten und Schicksalen. Alle diese Menschen warten darauf, dass ihr Asyl geprüft wird und sie wieder frei leben können. Manche schon seit vielen Jahren.
Zwischen ihnen fährt Al-Afat mit seinem grauen Rollstuhl. Nicht alle Bereiche des Lagers sind für ihn erreichbar, überall lauern Hindernisse. Sobald ein Weg abschüssig wird, rollt Al-Afat unkontrolliert los. Deshalb muss ein Freund seinen Rollstuhl festhalten. Die Bremsen alleine sind nicht stark genug.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Abwärts geht es hier oft. Das Lager Mavrovouni liegt direkt am Wasser. Seitdem vor acht Monaten ein Feuer weite Teile des Camps Moria zerstört hat, leben hier Geflüchtete auf einem alten Militärgelände. Die Zustände sind erniedrigend: Starker Regen überschwemmte mehrfach die Zelte, bis vor Kurzem hinderten kreischende Bohrmaschinen und die Umbauten die Bewohner*innen am Schlafen. Kinder fanden beim Spielen alte Munition und Ärzte hohe Bleianteile im Boden des Lagers.
Vor wenigen Tagen wurde Al-Afat hierhin verlegt, zusammen mit ungefähr vierhundert anderen Geflüchteten, einschließlich Menschen mit körperlichen Einschränkungen, psychischen Problemen, chronischen Erkrankungen und älteren Menschen. In jedem Flüchtlingslager drohen ihnen ernsthafte Hindernisse und Gefahren. Ganz besonders im berüchtigten Mavrovouni.
Noch vor einigen Tagen waren Al-Afat und die weiteren Geflüchteten in einem anderen Lager untergebracht. Kara Tepe hieß das Flüchtlingscamp, in dem der Syrer lebte. Es wurde 2015 eröffnet und sollte besonders schutzbedürftigen Menschen vorbehalten sein. Da nur etwa 1200 Plätze verfügbar waren, konnten nur die schwersten Fälle berücksichtigt werden.
Warum musste Al-Afat dieses Camp verlassen, in dem sein Leben einfacher und seine Bewegungsfreiheit weniger eingeschränkt war? Im September gab Griechenlands Migrationsminister Notis Mitarakis bekannt, dass Kara Tepe und zwei weitere kleinere Unterkünfte - Pikpa Leros und Pikpa Lesvos - geschlossen werden sollten. Mitarakis gilt als kompromisslose Persönlichkeit, der in der Vergangenheit kein Geheimnis aus seiner Strategie machte, Geflüchtete möglichst unwürdig unterzubringen, um so jene, die noch kommen könnten, abzuschrecken.
In Pikpa Leros und Pikpa Lesvos gab es eine Schule und Spielplätze für Kinder sowie Zugänge zu individueller Gesundheitsversorgung und psychologischer Hilfe. Beide Lager wurden im letzten Jahr geschlossen, teils gegen den heftigen Widerstand der Bewohner*innen. Die meisten von ihnen wurden nach Kara Tepe verbracht. Nun beginnen auch hier die Räumungen.
Die Strategie der griechischen Regierung scheint es zu sein, alle Geflüchteten zusammenzupferchen, außer Sichtweite der Anwohner und der Medien, umgeben von hohen Mauern und ohne Zugang zu Grundbedürfnissen wie Bildung, sauberen Toiletten oder einer heißen Dusche. Menschen wie Al-Afat haben unter diesen Umständen keine Chancen auf ein würdevolles Leben.
2012 fiel seine Welt aus der Ordnung. Eine Bombe traf das Haus in Deir ez-Zor im Osten Syriens. Sein Bruder wurde dabei getötet und unter den Trümmern begraben. Al-Afat überlebte, erlitt bei dem Angriff aber einen Hirnschaden, der dazu führte, dass er in Teilen die Kontrolle über seine Beine und Arme verlor. Die Ärzte in Syrien konnten wenig für ihn tun. Es blieb nur der Weg nach Europa. Freunde trugen ihn den größten Teil seiner Reise aus seiner Heimatstadt bis nach Griechenland.
Über 250 000 Menschen haben im syrischen Bürgerkrieg einer Schätzung zufolge Gliedmaßen verloren. Ungezählte weitere haben Blessuren, psychische Schäden und Beeinträchtigungen davongetragen. Für sie ist die Flucht noch beschwerlicher.
Al-Afat hat es zwar nach Europa geschafft, doch zusammen mit seiner Frau sitzt er seit eineinhalb Jahren auf der Insel Lesbos fest. Im vergangenen Jahr wurde die Familie darüber informiert, dass ihr Asylantrag abgelehnt wurde. Sie legte Berufung ein und wartet nun auf das zweite und endgültige Urteil.
Seit einigen Tagen tun sie das nun im Camp Mavrovouni. Da sein Rollstuhl nicht in den Bus passte, wurde Al-Afat am Morgen der Verlegung aus Kara Tepe getrennt von den anderen Geflüchteten nach Mavrovouni gebracht. Seine Frau und ihre beiden Kinder befanden sich zu diesem Zeitpunkt im Krankenhaus. Ihr einmonatiger Sohn Radi wurde mit hohem Fieber eingewiesen.
Als Al-Afat ohne seine Familie in Mavrovouni eintraf, schien niemand auf die Ankunft einer großen Gruppe von Menschen mit besonderen Bedürfnissen in das Lager vorbereitet gewesen zu sein. Lediglich eine Flasche Wasser, ein Karton Saft und einige Matratzen wurde den Menschen angeboten. Mehrere Stunden warteten sie unter freiem Himmel, bis sie einen Platz in einem Zelt oder Wohncontainer zugewiesen bekamen. Manchmal warteten sie noch länger: Eine Familie verbrachte die Nacht draußen. Auch 24 Stunden nach ihrer Ankunft wurde ihnen kein Platz zugewiesen.
Al-Afat wurde wie die meisten der Schutzsuchenden in einem der riesigen Zelte weit oben auf dem Hügel untergebracht, von dem aus sich Mavrovouni bis zur Küste erstreckt. Jedes dieser Zelte ist in Räume von etwa zwölf Quadratmetern unterteilt, in denen acht Personen hausen. Die Zimmer sind beengend, es gibt keine Fenster, Menschen, die sich völlig fremd sind, wohnen hier auf engstem Raum zusammen.
Eine Geflüchtete, Sohaye, die mit Al-Afat aus Kara Tepe hierhin versetzt wurde, erzählt, ihr zwölfjähriger Sohn, der unter Epilepsie leide, habe direkt in der ersten Nacht in Mavrovouni einen Anfall gehabt. »Der Stress war wahrscheinlich zu viel für ihn.« Hanife, 75, hat starke Atembeschwerden und kann kaum auf die Toilette gehen, weil sie zu weit weg ist. Ihr Sohn sagt, dass sie kürzlich in eine Chemietoilette gefallen sei und alle ihre Kleider schmutzig wurden. Auch für Al-Afat wird elementare Hygiene in Mavrovouni zum Problem: »Wenn ich auf die Toilette gehen muss oder duschen will, brauche ich Hilfe von zwei anderen Menschen. Das ist in den Chemietoiletten im Lager unmöglich«, klagt er über die Verlegung.
Eigentlich bedeutet der elektronische Rollstuhl für Al-Afat Freiheit und Lebensfreude. »Seit ich ihn habe, fühle ich mich besser. Vorher war ich völlig von anderen abhängig, weil ich nur einen Arm benutzen und deshalb keinen normalen Rollstuhl bewegen kann. Ich lag oft tagelang nur im Bett. Es war schrecklich langweilig und deprimierend. Der Elektrorollstuhl gab mir etwas von meiner alten Freiheit zurück.«
Doch kein Rollstuhl schafft es durch Mavrovouni. Der Boden ist hart, trocken und mit großen Steinen übersät. Al-Afat befürchtet für die Zeit seines Aufenthalts in Mavrovouni, wieder kaum sein Zelt verlassen zu können.
Inzwischen wurde Radi, Al-Afats Sohn, aus dem Krankenhaus entlassen. Bald soll er nach Athen, für weitere Untersuchungen und eine Diagnose, woher sein Fieber kommt. Doch ob das klappt und wann es so weit sein soll, ist noch nicht klar. Eigentlich dürfen Menschen im Asylverfahren Lesbos nämlich nicht einfach so verlassen. Die Entscheidung, Radi zu helfen, liegt vollständig in den Händen griechischer Beamter.
Die Familie muss weiter warten; auf Hilfe für ihren Sohn und auch auf das Ergebnis ihres Asylantrags. Wenn dies negativ ist, besteht die Gefahr, dass die Familie in die Türkei zurückgeschickt wird oder illegal weiter in Griechenland lebt. Ohne Papiere und ohne Zugang zur Gesundheitsversorgung. Und ohne, dass die Hoffnung, die einst ein syrischer Arzt Khaled Al-Afat mit auf den Weg gab, sich erfüllte: »Geh nach Europa, dort werden sie dir helfen.«
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.